Predigt: Der Zauber der Weihnacht
Diese Predigt hielt Prädikantin Prof. Dr. Athina Lexutt in der Christmette am Heiligabend 2023 in der Hennefer Christuskirche:
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich fasziniert diese heilige Nacht immer wieder. Ich hatte gedacht, als erwachsener Mensch würde sich vielleicht diese Faszination legen, das Sehnen und Wünschen und Träumen würde aufhören, einer Nüchternheit Platz machen. Ich dachte, irgendwann sei diese Botschaft, die wir eben in der Lesung gehört haben, nichts Besonderes mehr. Aber ich habe mich geirrt. Total. Und ich bin gottfroh darum!
Denn es ist immer noch keine Nacht wie jede andere. Es liegt immer noch und immer wieder ein Zauber über dieser Nacht. Man kann sich dieser Faszination nicht entziehen, sie legt sich nicht. Und selbst die nüchternsten Menschen und die härtesten Realisten geben zu – und sei es auch nur in der kleinsten Ecke ihres Herzens –, dass sie in dieser Nacht an Wunder glauben. Und wir alle, die wir hier sind, spüren es doch: Da ist dieser Zauber, da ist diese Stille, da ist etwas Heiliges, etwas, von dem man sich kaum traut, es in Worte einzusperren. Es ist, als würde diese verrückte und manchmal so schreckliche und grausame Welt für einen kurzen Moment stillstehen, den Atem anhalten und nur auf etwas hören, was so ganz anders ist als diese Welt. Ja, diese Welt hält einen Moment inne und lässt sich etwas sagen und hört ein Wort, das in die Zahnräder der scheinbar unveränderlichen Notwendigkeit greift und die Zeit anhält: Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!
Und dann ist sie plötzlich da – die Magie. Dann ist ein Zauber in der Luft, und alles verwandelt sich. Es duftet nach Weihnachtsplätzchen – obwohl da weit und breit keine sind. Man hört Schnee unter den Schuhen knirschen – obwohl keine einzige Flocke gefallen ist. Da schauen Rehaugen erstaunt aus dem Wald – mitten in der Stadt. Da wird es im Herzen warm – mitten in aller Hektik und allem Getriebensein. Großeltern, die längst verstorben sind, Kinder, die schon lange nicht mehr im Haus wohnen, Menschen, die man ewig nicht mehr gesehen hat – plötzlich fühlt man ihre Nähe und meint, man müsste sich nur umdrehen, und da stehen sie und warten nur darauf, ins festlich geschmückte Weihnachtszimmer eingelassen zu werden. Uns fallen Melodien und Texte längst vergessener Weihnachtslieder wieder ein, und man hat eine unbändige Sehnsucht nach Würstchen und Kartoffelsalat und Eierpunsch. Mitten im Erwachsensein staunen wir wie die Kinder, wenn wir diese Erzählung hören und diese Botschaft und was sie und sagt und welche Hoffnung sie uns macht.
Das ist Magie. (Anfangstakte von Harry Potter) Das ist ein Zauber, der über dieser Nacht liegt. Und wenn Sie wie ich ein ziemlicher Fan von Harry Potter sind und Bücher und Hörbücher und Filme verschlungen haben und immer wieder lesen, anhören und sehen können – dann ist es nicht so schwer, sich eine Welt zu wünschen, in der wir nur einen Zauberstab schwingen müssen, und alles ist anders. Wer von uns würde nicht gerne einmal auf einem Besen fliegen, wenn er wieder einmal im Stau steht oder die Bahn nicht kommt? Wer von uns würde nicht mit ein paar Zaubersprüchen der Unordnung in seinem Zimmer Herr werden? Wer von uns hätte nicht einen unsympathischen Dudley in der Bekanntschaft, dem er gerne einmal ein Ringelschwänzchen an den Allerwertesten zaubern würde? Und wer von uns wünscht sich nicht einen Patronus, der leuchtend in der Luft steht und uns vor allem schützt? Ja, das ist Zauber, das ist Magie. (Anfangstakte von Harry Potter) Aber auch im Harry-Potter-Universum liegt die Magie nicht nur darin, dass es da eine Parallelwelt mit fabelhaften Wesen und Reisen durch Kamine, mit Tarnumhängen und Zaubertränken gibt, in der alles anders und durch Magie leichter wird. Nein, es ist die Geschichte dieses Kindes Harry, der eine Heldenreise durchlebt und, gestützt durch Freundschaft und Liebe der Menschen in seiner Umgebung, Mut und Kraft hat, den scheinbar aussichtslosen Kampf mit allem Verrückten und allem Bösen aufzunehmen. Es ist die Erzählung davon, dass ganz unterschiedliche Charaktere zusammenfinden und Seite an Seite stehen, um ihm in diesem Kampf zu helfen. Und es ist das Hineingezogenwerden in eine Welt, die die Vorstellungen des Realen und des Faktischen auf den Kopf stellen.
Magisch – das ist auch die Geschichte dieses Jesus von Nazareth, dessen Geburt wir heute feiern. Auch seine Geschichte ist eine, die von Mut und Kraft erzählt und davon, wie jemand unerschrocken und konsequent dem Bösen die Stirn bietet. Die Erzählungen geben Zeugnis davon, wie sich unterschiedlichste Charaktere zusammentun und mit ihm den Weg gehen. Auch diese Erzählungen liefern Beispiele von Scheitern und Fragen und Mutlosigkeit und Desillusion, von Skepsis und Versagen. Vor allem aber stellt die Geschichte dieses Jesus von Nazareth alle Vorstellungen von Realität und vom Faktischen radikal auf den Kopf.
Nein, ich will nicht sagen, dass die Geschichten von Harry Potter und Jesus von Nazareth eigentlich austauschbar sind. Aber ich will Sie einladen, einen Augenblick in der Stille darüber nachzudenken, was für ein Zauber für Sie über dieser Nacht liegt. Und ich will Sie einladen, einen Augenblick darüber nachzudenken, was Sie verändern würden, wenn Sie einen Zauberstab hätten.
… Stille … (begleitet von ganz leise gespielten Anfangstakten von Harry Potter)
Und? Haben Sie es herausgefunden? Was würden Sie tun, wenn ein Schwingen des Zauberstabs genügen würde, und Sie könnten Dinge verändern? Vielleicht würden Sie in dieser Nacht Schnee fallen lassen? Oder dafür sorgen, dass das Geschirr vom üppigen Weihnachtsessen sich selbst wegspült? Oder würden Sie so gerne wie ich den Trumps und Orbans und Kim Jong Uns und Putins und allen Gierigen und Machtgeilen und Faschisten und Extremisten dieser Welt Ringelschwänzchen an den Allerwertesten zaubern, damit diese endlich äußerlich so aussehen, wie sie innerlich sind? Würden Sie auch gerne Vernunft herabregnen lassen auf all die Verrücktheiten und närrischen Dinge, die wir so beobachten? Würden Sie nicht auch liebend gern Frieden herbeizaubern und Liebe und Freundlichkeit und die Kriege, die Feindseligkeit und den Hass auf immer und ewig wie einen Irrwicht in ein Glas sperren? Würden Sie so gerne wie ich noch einmal mit einem Menschen sprechen, den Sie verloren haben und dem Sie so gerne noch gesagt hätten, wie unendlich lieb Sie ihn haben? Und würden Sie sich manchmal selbst gerne verzaubern, damit Sie den Mut finden, dieses „Ich liebe Dich“, dieses „Ich brauche Dich“ jetzt endlich dem Menschen zu sagen, der lebt und neben ihnen ist? Natürlich. Wunderbare Illusion. Nicht mehr. Ein Traum, eine Utopie. Wir haben keinen Zauberstab, so funktioniert das leider in diesem Leben nicht, denn die Welt ist, wie sie nun mal ist, und vor allem sind wir, wie wir eben sind.
Aber vielleicht brauchen wir den Zauberstab auch gar nicht. Denn es ist ein Zauber über dieser Nacht. Was ist für Sie, habe ich Sie eben gefragt, der Zauber dieser Nacht? Was ist für Sie in diesem Augenblick magisch, fantastisch, das, was Sie eher spüren, als dass Sie es sehen oder hören oder fassen könnten? Was ist für Sie das ganz Besondere und Einmalige an dieser Nacht? Was ist es, dass Ihnen plötzlich einen Plätzchenduft in die Nase zaubert, obwohl da weit und breit keine sind, und Sie Schnee unter den Schuhen knirschen hören lässt, obwohl keine einzige Flocke gefallen ist? Was macht es, dass sie sich den Menschen, die gerade nicht oder überhaupt nicht mehr da sind, ganz nahe fühlen? Was bringt uns dazu, in dieser Nacht auch als die erwachsensten Erwachsenen mit großen Kinderaugen zu staunen, uns an längst vergessen geglaubte Lieder zu erinnern und wieder an Wunder zu glauben?
Vielleicht liegt das daran, dass ein Wunder geschehen ist. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass nicht wir zu Gott kommen mussten, sondern er zu uns gekommen ist, und zwar als Kind. Als Kind, das auch uns zu Kindern macht, zu Kindern Gottes, die staunen dürfen und sich fallen lassen dürfen und sich voller Vertrauen und bedingungslos jederzeit an ihn wenden dürfen. Vielleicht liegt das daran, dass dieses Geschehen in dieser Nacht in Bethlehem so intim ist und so klein und Menschen und Tiere nah beieinander sein lässt, die sonst nur wenig miteinander zu tun hätten. Und daran, dass in dieser Nacht in Bethlehem alle Verhältnisse, alle Wirklichkeit, alle Welt auf den Kopf gestellt wurde und danach nichts mehr so war wie zuvor. Es liegt daran, dass dieses Kind in der Krippe allem, was Macht und Autorität beansprucht, seine Grenzen aufzeigt und dort ist, wo nichts ist, gar nichts – außer Wärme und Licht und Liebe mitten im Dunkel. Und damit hat es etwas zu tun, dass alles verwandelt wird in dieser Nacht, und dass auch wir verwandelt werden. Nicht in unseren Augen, aber in den Augen Gottes. Für ihn sind wir die, die er obwohl wir sind, wie wir sind, mitten in all unserer Wirklichkeit mit seiner Wahrheit anspricht und über einen Engel sagen lässt: Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!
Nein, kein Zauberstab, keine Zaubertränke und keine Zaubersprüche. Kein Albus Dumbledore, keine Minerva McGonagall, keine Hermine Granger und kein Harry Potter. Sondern Hirten auf dem Feld, Maria, Josef, Tiere, ein Stern – und das Heil in einer Krippe. Das ist es, was die Welt verwandelt, was uns in dieser Welt verwandelt. Weil es uns an die Stelle setzt, die unsere sein soll in diesem Geschehen: Wir stehen dort, wo wir staunen und anbeten und stille werden und uns verzaubern lassen. Und wo wir weitergehen und es weitersagen sollen und es allen verkünden sollen, was wir sehen, mit Herz und Mund und Händen.
Keine Nacht wie jede andere. Es liegt ein Zauber über dieser Nacht. Ein Zauber, der sich in diesem Baum, in dieser Krippe, in diesem Kreuz, in diesen Texten, in diesen Kerzen und Lichtern, in all unseren Gesichtern und in unserer Liebe zueinander spiegelt. Ein Zauber, an den man sich nicht einfach gewöhnen kann und der sich in seiner Faszination irgendwann gelegt hätte, sondern der uns bis zu unserem letzten Atemzug staunen lässt mit Kinderaugen, mit den Augen der Kinder des Gottes, der um ihretwillen Mensch geworden ist. Der um unseretwillen Mensch geworden ist. Unser Patronus, der uns schützt und vor uns den Weg erleuchtet, ist das Lamm Gottes und ist der gute Hirte, der sein Leben lässt für die Schafe. Der ist bei uns in unserer Nacht, der begleitet uns in unseren Tagen, der lässt uns nicht los und trägt uns im Leben und im Sterben durch alles hindurch. So schließt er uns das Himmelreich auf, sein Reich, das Paradies.
Keine Nacht wie jede andere. Es liegt ein Zauber über dieser Nacht. Amen.