Predigt: Der am Kreuz – einer von uns

Diese Predigt hielt Pfarrer Stefan Heinemann am Karfreitag, 29. März 2024, in der Hennefer Christuskirche:

 

Ein Gang: Weißgestrichen. Gummiboden.
Zwei Bettbreiten von Wand zu Wand. Rollstühle am Rand. Krankenhaus!
Eine Tür. Ein Zimmer. Ein Bett: Frau mit Atemmaske.
Augen geschlossen. Patientin!
Blick in Gesichter: Stehen ums Bett.
Traurig. Tränen. Teilnahmsvoll.
Hirntumor. Inoperabel. Schon zwei Jahre.
Noch zwei Wochen? Wächst wieder.
Epileptische Anfälle. Palliative Betreuung.
„Hat sie Schmerzen?“ – „Erkennt sie uns noch?“

 

Als er fertig ist,  – endlich fertig ist, macht er einen Schritt zurück.
Ach, ein Schritt – das reicht nicht!
Er geht zehn, zwanzig Schritte nach hinten, dreht sich um und läßt das Bild auf sich wirken.
Es ist das größte Bild, das in Europa jemals von dieser Szene gemalt wurde.
In den letzten 1.000 Jahren.
3 mal 2 Meter. Macht acht Meter im Quadrat. Riesig!
Aber das, was Menschen über Jahrhunderte daran faszinieren wird, ist nicht die schiere Größe, sondern die Art, wie Mathis Gothart Nithart die Kreuzigung gemalt hat – so … schockierend brutal lebensecht!

Wenn bis dahin einer die Kreuzigung dargestellt hatte, dann war es unblutig zugegangen, gesittet und ansehnlich.
Dieser Christus ist anders!

Das Kreuz erstreckt sich über die gesamte Höhe des Bildes.
Links trauern die beiden Marias und der Lieblingsjünger.
Rechts verweist Johannes der Täufer mit überlangem Zeigefinger auf den Sterbenden.
Aber das Kreuz überragt sie alle!
Eilig zusammengezimmert, ist die Rinde des Stammes bloß auf der Vorderseite abgelöst.
Der dünnere Querbalken ist kaum entrindet.
An einem Haken oben hängt eine Holztafel: INRI.
Denn: Über dem Kopf Jesu hatten sie eine Aufschrift angebracht, die den Grund für seine Verurteilung angab: „Dies ist Jesus, der König der Juden.“ (Mt 27,37)

 

„In Colmar stand ich einen ganzen Tag lang vor dem Altar,
ich wusste nicht, wann ich gekommen war,
und ich wusste nicht, wann ich ging.
Ich sah den Leib Christi ohne Wehleidigkeit,
der entsetzliche Zustand dieses Leibes erschien mir wahr.
Vor dieser Wahrheit wurde mir bewusst,
was mich an Kreuzigungen verwirrt hatte:
ihre Schönheit, ihre Verklärung.
Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grausen abgewandt hätte, das war im Bild aufzufassen.“
Schreibt Elias Canetti 1927.

 

Denn der Körper des Gekreuzigten hängt schwer.
So schwer, dass sich das Querholz nach unten biegt.
So schwer, dass sich die überstreckten Arme aus den Schultern renken.
Mit dicken Nägeln sind die Hände von oben auf den Balken genagelt. Blut tropft herab.

Von einem einzigen Nagel im Spann durchstoßen sind die Füße.
Von keiner Stütze gehalten, werden sie vom langen Stift des Nagels regelrecht aufgespießt.

 

Der Kunsthistoriker Wilhelm Niemeyer schrieb 1921:
„Vor diesen durchbohrten leichengrünen Blutfüßen ist es,
als ob nie ein Maler Blut, wirkliches Blut habe zeigen mögen.
Und diese Nagelung!
Im Grausen vor der Qual der zerquetschten Sehnen und zersprengten Knochen erschauert man des Gedankens, dass Menschen es sind, die an Menschen solches tun.
Dass wir alle diese Worte: sie nagelten ihn ans Kreuz! gehört, gelesen, gesprochen und nie gewusst haben, was das ist: am Holz übereinander genagelte Menschenfüße!“
Schreibt Wilhelm Niemeyer.

 

Das Blut, das heruntertropft, die Dornenkrone und der zerfetzte Lendenschurz kennzeichnen die Erniedrigung und völlige Zerstörung dieses Menschen am Kreuz. Warum malt man so was? Und dann noch so?

 

Als Mathis mit dem Bild fertig ist, läßt er den Abt der Antoniter holen. Er hat Mathis damals den Auftrag erteilt:
„Unser Kloster in Isenheim braucht einen neuen Altar. Könnt Ihr die Bilder dazu malen, Meister Mathis?“
Er war da schon bekannt für seine ungewöhnlich realistischen Gemälde.
Immer auf der Suche nach einem neuen Menschenbild und neuen Ausdrucksformen.
Aber wie er die Kreuzigung darstellen sollte, das wusste Mathis lange nicht.
Bis er an den Ort kam, wo der Altar seinen Platz haben soll.
Er sah die Kranken, die von den Antonitermönchen im Isenheimer Hospital gepflegt wurden.
Sie litten am „Antoniusfeuer“, das unsagbare Schmerzen über die Menschen brachte. Ihre Arme und Beine zittern ließ.
Mathis sah ihre Körper. Er sah ihre Qualen.
Und da wusste er: So muss Christus am Kreuz aussehen, wenn er an diesem Ort zu sehen sein soll.

 

Aus dem ‚Klinischen Wörterbuch‘, dem Pschyrembel in der aktuellen 269. Auflage von 2023:
Ergotismus, auch Mutterkornvergiftung oder Antoniusfeuer.
Ist die Intoxikation, also Vergiftung mit Ergotolalkaloiden, die in mit Mutterkorn befallenem Getreide vorkommen.
Auftreten: Im Mittelalter nach Verzehr von Getreide, das mit dem Mutterkornpilz Claviceps purpurea verunreinigt war.
Klinische Symptome: Verfärbung von Haut und Lippen wegen mangelnder Durchblutung.
Fehlende Durchblutung von Armen und Beinen.
In der Folge Taubheitsgefühle, Lähmungserscheinungen, starke Schmerzen.
Bei chronischer Vergiftung teils Absterben der Gliedmaßen.
Sekundärinfektionen. Sepsis.

 

So sieht er aus, dieser Christus: Er leidet am „Antoniusfeuer“!
Seine Hände sind verkrampft wie die der Kranken im Hospital.
Die Farbe des toten Körpers ist gelb-grün.
Die blauen Lippen und der eingezogene Brustkorb sind Folgen des Erstickungstodes, der mit unbehandeltem Ergotismus einhergeht.
Die vielen kleinen, rot umrandeten Wunden am Körper, die Matthias Grünewald gemalt hat, bluten auch nicht.
Sie zeigen das Gefühl des inneren Brennens an, das die schlechte Durchblutung auslöst. Deshalb ‚Antoniusfeuer‘.
Dieser Christus, das ist keine historische Darstellung dessen, was in der Bibel erzählt wird.
Dieser Mann am Kreuz leidet am ‚Antoniusfeuer‘.
Und die Kranken, die im Isenheimer Hospital lagen, mussten sich in ihm wiedererkennen. Der ist wie wir!

 

Vier Jahre hat Mathis an den zwölf Bildern des Isenheimer Altars gearbeitet.
Im Jahre des Herrn 1516 ist der letzte Pinselstrich gezogen.
Mathis verabschiedet sich vom Abt des Klosters.
Der schüttelt ihm die Hand und bedankt sich herzlich:
„Das werden wir Euch nicht vergessen, Meister Mathis!
Tief beeindruckt hat die Brüder Euer Bild der Kreuzigung.
Die Brüder haben sich besprochen: In Zukunft werden alle Kranken, die hier aufgenommen werden, vor Beginn ihrer Behandlung durch die Kirche geführt.
Sie sollen den Altar und das Kreuzigungsbild betrachten dürfen so lange sie wollen.
Manche sind schon einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geblieben.
Für sie ist dieses Bild wie eine innere Medizin, eine Kräftigung der Seele und geistlicher Trost. Wir danken Euch!“
Mathis drückt die Hand fest. Dann dreht er sich um und verlässt Isenheim. Sein Altar bleibt dort.
Er wird noch manche Bilder malen.
Keines wird so berühmt wie die Altarbilder in Isenheim.

 

Denn es kam genauso: Über Jahrzehnte und Jahrhunderte haben Patienten des Hospitals dort dieses Bild meditiert: Was sollte es ihnen sagen?
Vielleicht, Du bist mit deinem Leid nicht allein.
Jesus Christus weiß, was deine Schmerzen sind, denn er selbst hat sie an seinem Körper und an seiner Haut ertragen müssen.
O Haupt voll Blut und Wunden!
Folg dem lang ausgestreckten Finger des Johannes, sieh den Mann am Kreuz an und versteh: Er ist einer von uns.
Der, an den du glaubst, zu dem du betest, ist dir in deinem Schicksal sehr nah.
Immer hat er sich zu den Niedrigen, den Armen, Kranken und Elenden gehalten.
Und noch am Kreuz zeigt er, wie nah er uns Kranken ist.

 

So ein Bild tröstet nicht die Täter des Bösen, die sich so gern ihre Sünden vergeben lassen.
So ein Bild tröstet die Opfer, die glauben dürfen, dass Gott sie in ihrem Leid nicht allein lässt.
Und deshalb war dieses Bild jahrhundertelang für die pflegenden Antoniter so wichtig.
Die Mönche brauchten kein Bild vom Leid.
Davon sehen sie jeden Tag mehr als genug im Hospital.
Sie brauchten kein Bild von ekligen Wunden.
Denn die kennen sie und waschen sie aus, wenn es nötig ist.
Aber sie brauchen das Bild, dass Jesus sich am Kreuz mit dem Leid verbunden hat.
Dafür war das Bild wichtig: Jesus identifiziert sich mit dem Leid ihrer Patienten.
Dem Leid, das sie jeden Tag erleben, gibt dieses Bild eine neue Qualität und Würde.
Auch Jesus war Träger dieses Leides.
Er war – im Bild – einer von ihren Kranken im Antoniuskloster.

 

Einmal erzählt Jesus den Jüngern von den Gerechten und den Ungerechten.
Denen, die Gott verstoßen wird, und denen, die er in sein Himmelreich aufnehmen wird.
Und dann werden die Menschen fragen, warum er so sortiert: Die einen zur Rechten, die anderen zur Linken.
Dann wird der Menschensohn zu ihnen sagen: „Ihr, die Gerechten – ich bin krank gewesen, und ihr habt mich gepflegt.“
„Wann“, werden die Menschen überrascht fragen, „wann haben wir dich krank gesehen und haben dich gepflegt?“
Und der Menschensohn wird antworten: „Alles, was ihr einem von diesen Kranken getan habt, das habt ihr mir getan.“

 

Ein Gang: Weißgestrichen. Eine Tür. Ein Zimmer. Ein Bett. Augen geschlossen.
Hand auf Hand. Zärtliches Streicheln.
Jemand spricht sanft alte Worte: Der Herr ist mein Hirte, …
„Hört sie uns?“ Immer ist jemand da.
Du bist nicht allein. Im Leben wie im Sterben.
Die Hand auf der Stirn zeichnet ein Kreuz.
„Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.
Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit.“ (Psal 121,7f)
Sie atmet ein. Sie atmet aus. Dann nichts mehr.
„Sie hat es geschafft!“ sagt eine. Es ist vollbracht. Amen.