“Ich glaube an die Jungfrau Maria …”

Sie war 22 – und ich zehn Jahre jünger als heute. Ich traf sie am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt. Sie war Konfi-Teamerin unserer Kirchengemeinde. Studentin der Psychologie. Lisa: Selbstbewusst, fit an Körper und Geist, Laptop und Facebook. Nicht unsympathisch.
Wir kamen so ins Gespräch über dies und das. Was sie an Weihnachten vorhat.
Ach, unter’m Jahr sei sie gar nicht so oft in der Kirche.
Aber Heiligabend, klar, da kommt sie in den Gottesdienst.
Nur eins habe sie an Weihnachten immer gestört. Die Geschichte mit der Jungfrauengeburt.
Schon damals im Konfirmandenunterricht, als man noch häufiger in den Gottesdienst ging, habe sie an der Stelle im Glaubensbekenntnis, wo es heißt: „geboren von der Jungfrau Maria“ – immer eine Pause gemacht. Nicht mitgesprochen.
Denn: So etwas zu glauben, sei doch absurd. Sie sehe nicht ein, dass sie ihren Verstand an der Kirchentür abgeben solle. Müsse man das glauben!?

Hatte Lisa recht? Ist das so, dass wir bei der Weihnachtsgeschichte unseren Verstand an den Nagel hängen müssen? Müssen wir an die Jungfrauengeburt glauben?

Die Rede von der Jungfrauengeburt – eine Ausnahme
Um es gleich vorweg zu sagen: Besonders häufig wird die Sache mit der Jungfrauengeburt in der Bibel nicht erwähnt. Zwei, drei Stellen mögen es sein. Eine davon ist heute am 4. Advent Predigttext – sie steht bei Lukas, im ersten Kapitel:
Da schickte Gott den Engel Gabriel zu einer Jungfrau in die Stadt Nazaret in Galiläa. Sie war mit einem Mann verlobt, der Josef hieß. Er war ein Nachkomme Davids.
Die Jungfrau hieß Maria.Der Engel trat bei ihr ein und sagte: »Ich grüße dich, Maria, Gott hat dir seine Gnade geschenkt. Der Herr ist mit dir.«
Maria erschrak über diese Worte und fragte sich: »Was hat dieser Gruß zu bedeuten?«
Da sagte der Engel zu ihr: »Hab keine Angst, Maria. Durch Gottes Gnade bist du erwählt. Sieh doch: Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Du sollst ihm den Namen Jesus geben. […]«
Da sagte Maria zu dem Engel: »Wie kann das sein, ich schlafe doch noch mit keinem Mann!«
Der Engel antwortete ihr: »Heiliger Geist wird auf dich kommen. Die Kraft des Höchsten wird dieses Wunder in dir bewirken. Deshalb wird das Kind, das du erwartest, heilig sein und ›Sohn Gottes‹ genannt werden. Was Gott sagt, macht er wahr.«
Da sagte Maria: »Ich diene dem Herrn. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast.« Da verließ sie der Engel. (Lukas 1,33-38*, nach der Basisbibel)

Gott kommt – in die Uckermark Israels
Man kommt dieser Geschichte am besten auf die Spur, wenn man zuerst auf ein paar Äußerlichkeiten achtet.
Da ist zum einen Galiläa. Eine kleine Provinz im Norden des Landes. Im Bewusstsein der Leute ein wenig hinterwäldlerisch. Läge Galiläa in Deutschland, es hieße wohl Ostfriesland oder Uckermark. Und ausgerechnet hierhin kommt der Engel Gottes.
Und dann: Nazareth. Ein Kuhkaff mit schlechtem Ruf: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen!“ sagen die Leute. Wir kennen solche Orte, von denen angeblich nichts Gutes zu erwarten ist.
„No-go-Areas“ sagen die Amerikaner dazu. Gegenden, die der friedliche Bürger besser meidet. „No-go-Area“ Nazareth. Und hierhin kommt der Engel Gottes.
Und zuletzt: Maria. Wer ist sie? Eine Heilige? Eine reine, unbefleckte Magd? Madonna, Mutter Gottes, Himmelskönigin? Ohne unseren katholischen Geschwistern zu nahe treten zu wollen – von alledem sagt das Lukasevangelium nichts. Maria ist ein einfaches, unbekanntes Mädchen in der Provinz. Ihr jüdischer Name: „Miriam“. Und zu ihr kommt der Engel Gottes.

Hinterwäldlerische Provinz, „No-go-Area“, einfaches jüdisches Mädchen. Mit diesen Äußerlichkeiten sind wir dem Wunder von Weihnachten schon auf der Spur. Dem Wunder nämlich, dass Gott schlicht zur Welt kommt, Mensch wird. Die Betonung liegt auf: schlicht!
Denn Göttersöhne kannte die Antike zuhauf. Vom muskelbepackten Herkules, der auf zahllosen Schlachtfeldern zahllose Gegner zur Strecke brachte, bis zur Göttin Athene, die Göttervater Zeus gleichsam als Gedankenblitz in voller Rüstung aus dem Kopf entsprang.
Nichts davon in Nazareth.
Geradezu unspektakulär wird die Geburt des Gottessohnes angekündigt.
Nichts davon in Betlehem, neun Monate später.
Unheroisch kommt der Heiland zur Welt. In Windeln gewickelt. Der Held.

Ein Missverständnis: Junge Frau wird Jungfrau?
Solch eine wunderbare Geschichte erzählt Lukas – als Wundergeschichte.
Zu Hilfe nimmt er sich dabei eine alte Verheißung aus der Bibel:
„Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie Immanuel nennen“, heißt es beim Propheten Jesaja. (Jesaja 7,14)
Dieses Bibelzitat baut Lukas fast wortgleich in seine Geschichte ein.
Aber, ist es Ihnen aufgefallen? Lukas macht aus der jungen Frau bei Jesaja eine ‚Jungfrau‘.
Was bei der damaligen Heiratspraxis auch nicht weit auseinander lag.
Dennoch: Was ist das jetzt? Ein peinlicher Versprecher? Ein geistreiches Wortspiel? Hat der Mann im Biologieunterricht nicht richtig aufgepasst – oder hatte er es nicht so mit dem anderen Geschlecht?

Die Kernfrage ist: Wann wird Jesus Gottes Sohn?
Nein, Lukas ging es um etwas anderes. Etwas Entscheidendes. Lukas fragt: Wann wurde aus Jesus von Nazareth Gottes Sohn? Wie kann es sein, dass wir in einem Zimmermannssohn vom Lande Gottes Gegenwart vollmächtig erfahren haben?

Nicht mehr wegzureden war das für die ersten Christen seit der Auferstehung. Als Gott Jesus aus dem Tod holte, da wurde ihnen klar: Das ist Gottes Sohn. So lautet die erste Antwort! Das ist die Antwort des Paulus. Paulus nennt die Mutter Jesu, Maria, nicht mal beim Namen. Nur dass Jesus seiner irdischen Herkunft nach ein Nachkomme Davids war.  Und Paulus weiß schon gar nichts davon, dass Maria Jungfrau gewesen sei. Findet beim großen Theologen der ersten Christengeneration nach Ostern nicht mal Erwähnung!

Dann ist da einer, von dem Lukas viele seiner Jesus-Geschichten abgeschrieben hat. Das war Markus, der sagt: Die Taufe war’s. Als Jesus sich taufen ließ, da hat Gott ihn angenommen an Kindes statt. Ab da war klar: Jesus ist Gottes Sohn! Der Heiland ist da. Und deshalb muss Markus in seinem Evangelium auch gar nichts erzählen von der Geburt Jesu. Alles weggelassen. Nur die Maria kennt er – und Jesu leibliche Geschwister. Die anderen Kinder der Maria.

Lukas aber war auch das noch zu wenig. Lukas wollte nicht glauben, dass Gott vielleicht nur eine Gelegenheit, die sich zufällig ergab, beim Schopfe ergriffen hat. Als mal ein passender Wanderprediger sich im Jordan taufen ließ. Als mal ein aufmüpfiger Nazarener gekreuzigt wurde. Nein, das alles war kein Zufall, davon ist Lukas überzeugt. Sondern Gott hat es von Anfang an gewollt. So kam Jesus schon als Christus zur Welt: Gott schenkt, der Mensch empfängt!
Und die Menschen haben kein Zutun daran, dass ihr Erlöser kommt. Jesus Christus ist kein fabelhaftes Spitzenprodukt einer religiösen Entwicklungsgeschichte. Jesus von Nazareth war nicht der perfekte Mensch – und wir können alle so werden wie er, wenn wir nur genug an uns arbeiten. Nein! Das Kommen des Erlösers ist nicht zu erklären aus menschlichen Genen, menschlichem Fortschritt und spirituellem Wachstum. Denn dann hätte die Menschheit ihren Erlöser selbst hervorgebracht – und hätte sich selbst erlöst? Das aber können die Menschen nicht. Gott kommt.
Er schickt seinen Sohn, um die Menschen mit ihm zu versöhnen. Die Menschen können das nicht erzwingen. Sie können nur zustimmen – wie Maria es tut.
Deshalb erzählen Lukas und sein Evangelistenkollege Matthäus von der Jungfrauengeburt. Darin hat die Rede von der Jungfräulichkeit Marias ihren Sinn.

Und zugleich können Lukas und Matthäus jeweils ein Kapitel weiter ellenlange Stammbäume zitieren, die belegen: Über den Zimmermann Josef ist Jesus ein direkter Nachkomme des Königs David, des Abrahams, des ersten Menschen Adam. Wie kommen sie dazu?
Lukas und Matthäus reden nicht wider die Biologie. Der biologische Vater Josef ist für sie unaufgebbar. Aber der Heilige Geist als eigentlicher Erzeuger – sie benutzen dieses Bild, weil sie meinen, es anders nicht ausdrücken zu können.

Was wir gewinnen? Menschlichkeit und guten Sex!
Dazu gibt es zwei gute Gründe, die Rede von der Jungfrauengeburt nicht wörtlich zu nehmen.
Der erste ist: Wenn damals, als Jesus von Nazareth gezeugt wurde, kein Mann im Spiel war, sondern nur der Heilige Geist, dann ist dieser Jesus ein halber Gott – also weder ein richtiger Mensch noch ein richtiger Gott. Einer wie Herkules.
Kann Jesus dann am Kreuz gelitten habe – wie ein Mensch? Hatte er Todesangst und Selbstzweifel – wie ein Mensch? Und: Jesu Leben als Richtschnur für mein Leben? – Aber er war ja gar kein Mensch. Und Halbgötter haben leicht reden.
Wenn Jesus kein Mensch war, wenn Jesus nicht der Sohn des Josef war, dann ist alles, was er gesagt und getan hat, nur noch die Hälfte wert. Denn er war nicht einer von uns.
Der andere Grund? Ist der gute Sex! Wer der Jungfrauengeburt glaubt, könnte meinen, dass der Gottessohn nur zuwege gebracht werden konnte ohne menschlichen Schmuddel-Sex.
Und die Geschichte des Christentums zeigt: Je mehr die Jungfrauengeburt glorifiziert wurde, desto mehr wurde die menschliche Sexualität als sündenbehaftet durch den Schmutz gezogen. Dabei ist sie eine gute Gabe Gottes.

Demnächst am Glühweinstand
Das alles hätte ich Lisa gerne gesagt. Dass die Jungfrauengeburt wichtig ist – als Bild. Dass Lisa ihren wundervollen Verstand bitte nicht an der Kirchentür abgeben soll.
Sondern dass es darum geht, die Dinge zusammen zu denken. Die Biologie und das Gottvertrauen. Denn so haben es Lukas und Matthäus gemeint.

Vielleicht erzähle ich ihr das demnächst.
An irgendeinem Glühweinstand auf irgendeinem Weihnachtsmarkt.
Denn ich würde es ihr und uns wünschen, dass wir beides zusammenkriegen. Amen.

Diese Predigt hielt Pfarrer Dr. Stefan Heinemann am 4. Adventssonntag, 18. Dezember 2016, in der Hennefer Christuskirche.