Reise zum Ursprung von Dank und Teilen

Der Altar ist geschmückt, die Erntegaben sind ausgelegt. Es ist Erntedank – lassen Sie uns also reden über: Steuern!
Über Almosen und Abgaben, über Solidarität und Barmherzigkeit – und warum die erste Sozialsteuer in der Bibel steht. Weil zum Empfangen und Danken das Teilen gehört.
Das hat eine jahrhundertelange Geschichte, wie aus Barmherzigkeit Recht und aus göttlichem Recht eine Steuer wurde.
Ich erzähle Ihnen vier kurze Geschichten aus über tausend Jahren. Sind Sie bereit für einen kleinen Time-Warp?

Eine Frau darf Ähren lesen: Rut
Wir beginnen im Jahr 1.100 vor Christus – ungefähr. So genau weiß das keiner mehr. Da steht eine Frau auf einem Feld.
„Was will die denn hier?“ fragt der Knecht. Er hat die Arme voller Getreidegarben. Es ist Erntezeit. Eben haben sie geschnitten.
Jetzt sammeln sie das Getreide ein, um es einzufahren: Eine reiche Ernte. Eine gute Ernte wird das. Wieder mal!
Dafür ist ihr Dorf bekannt: Dass es hier gute Ernten gibt. Und es hier gut zu essen gibt. Deshalb heißt ihr Dorf ‚Stadt des Brotes‘ – auf Hebräisch: Betlehem.
Aber jetzt steht da diese Frau am Feldrand. „Was will die denn hier?“ fragt der Knecht noch mal.
„Das ist die Neue“, sagt ein anderer Knecht. „Sie ist vor zwei Tagen mit Noomi gekommen. Ihre Schwiegertochter aus Moab – eine Ausländerin. Aber die einzige Familie, die der Noomi geblieben ist. Nachdem ihr Mann und ihre Söhne dort gestorben sind.“
„Hätt‘ sie halt nicht weg gehen sollen“, meint ein Erntehelfer kichernd. „Vielleicht ist sie ja gefährlich: Eine, die ihre Männer abmurkst. Bei Ausländerinnen weiß man nie.“ Er kichert.
„Ach, halt doch die Klappe“, sagt der älteste Knecht. „Die sieht aus, als hätte sie Hunger. – He, was willst Du?“ ruft er zu der Frau hinüber.
Ihr Hebräisch ist brüchig: „Noomi sagt, ich darf Ähren lesen. Ich darf hier das Getreide aufheben, das ihr liegen lasst.“
„Aha“, brummt der Knecht. Er macht ein knurriges Gesicht. Noch überlegt er, ob er die Frau wegschicken soll.
„Das ist schon richtig so“, sagt eine Stimme hinter ihm. Eine Hand fällt auf seine Schulter. Der junge Mann mit den leuchtenden Augen ist sein Chef. Boas gehört das Feld und die Ernte. „Sie hat recht, Noomi kennt die alten Lebensregeln, die Mose uns gegeben hat: Arme, Witwen und Waisen dürfen Nachlese halten von dem, was überreichlich da ist.  Wisst Ihr das denn nicht?“
Er schmunzelt seine Knechte an.
„Und wenn sie so hübsch sind wie die da, dürft ihr auch ein bißchen mehr liegen lassen, klar?“ Da grinsen die Knechte. Für diese Art von Humor lieben sie ihren jungen Chef.
Boas geht zu der jungen Frau am Feldrand. Noch weiß er nicht, dass er sich gerade in sie verliebt. Noch weiß er nicht, dass sie seine Frau und die Mutter seines Sohnes Obed werden wird. Und von Obed wird man einmal erzählen, dass er der Großvater des großen Königs David war. Die Frau, die Boas auf seinem Feld Nachlese halten lässt, heißt Rut, die Ausländerin aus Moab.

Ein König erfindet die Sozialsteuer: Josia
Szenenwechsel, Schnitt. 500 Jahre später. Oben auf der Stadtmauer Jerusalems steht der junge König Josia. Die Menschen halten große Stücke auf ihn.
Ihm bietet sich eine historische Chance. Die will Josia nutzen.
An diesem Morgen steht er mit seinem Berater Menachem oben auf der Zinne. Still steigt Nebel aus dem Kidrontal.
„Das Volk ist verunsichert“, beginnt Menachem. „Sie haben die Assyrer erlebt – und fürchten die Neubabylonier, die immer stärker werden. Deren Könige haben stehende Heere und mächtige Götter. Sie bedrohen uns. Das Volk braucht Mut!“
Der junge König glaubt an Gott. Er ist tief religiös. Er weiß, worauf Menachem hinaus will: Machtpolitik. Aber das will er nicht: „Menachem, natürlich können wir es machen wie die Großherrscher: Ein stehendes Heer, viele Soldaten, militärische Expansion. Aber wir sind ein heiliges Volk. Wir sind auserwählt, seit Gott uns aus Ägypten befreite. Gott hat uns mit diesem Land gesegnet. Hier leben wir in Barmherzigkeit und Solidarität. Das sollen die Menschen spüren. Das gibt ihnen Mut und eine neue Idee.“
Menachem betrachtet seinen jungen König. Er bewundert Josia für seine Visionskraft. Aber manchmal würde er ihn damit am liebsten zum Arzt schicken: „Woran denkt Ihr, Herr?“ fragt er vorsichtig.
„Assyrien ist schwach. Wir zahlen keinen Tribut mehr nach Assur. Die Steuer, die wir erhoben haben, um den Tribut zu zahlen, ziehen wir ab sofort nicht mehr ein.“
Menachem atmet tief durch. So viel Radikalität hatte er nicht erwartet. Aber der König geht noch weiter: „Der Zehnte, mit dem bisher jeder 10% seiner Ernte an Tempel und König abgab, wird abgeschafft. Mit einer Ausnahme: Jeder Land-besitzer muss in jedem dritten Jahr ein Zehntel seiner Ernte abgeben an Fremdlinge, Witwen und Waisen in seinem Dorf. Davon können sie dann leben.“
Menachem schüttelt seinen grauen Kopf: „Aber wieso das?“
„Kennst Du die Legende von meinem Urahn Boas und seiner Frau Rut? Von alters her gab es in Israel den Brauch, dass man die Armen Nachlese halten ließ, weil wir von Gott dieses Land bekommen haben, in dem Milch und Honig fließt. Wir machen daraus ein Gesetz!“
Menachem gibt noch nicht auf: „Aber Herr, so etwas war noch nie da. Eine Steuer für Arme. Das gibt es in keinem anderen Reich, von dem wir wissen.“
Da fangen die Augen des jungen Königs an zu leuchten: „Wir sind die ersten, Menachem? Na und, wir sind auserwählt. Wir machen die erste … Steuer für Arme. Weil Gott es so will.“

Ein Prophet träumt vom Aufbau: Tritojesaja
Szenenwechsel, Schnitt. 100 Jahre später. Tritojesaja steht da, wo Josia stand. Er schaut auf Ruinen. Das sind die Reste Jerusalems, nachdem vor zwei Generationen die Neubabylonier alles dem Erdboden gleichgemacht haben: Königspalast, Tempel, Stadtmauer.
Tritojesaja und sein Prophetenschüler sind aus dem Exil zurückgekehrt. Sie träumen von einer goldenen Zukunft für die alte Hauptstadt Israels – auch an diesem Morgen, als Nebel aus dem Kidrontal aufsteigt.
„Meister, wie soll das werden?“, fragt der Prophetenschüler besorgt. „Gestern habt Ihr eine flammende Rede vor den Heimkehrern aus Babylonien gehalten. Aber an einem Morgen wie diesem fange ich an zu zweifeln.“
Der Prophet schaut ihn nachdenklich an: „Es wird ein langer Weg zurück. Aber wir müssen anknüpfen an die alten Tage: An die göttlichen Gesetze des Mose, an die Visionen der großen Könige: Barmherzigkeit und Solidarität. Wenn wir gottgefällig leben, wird Gott uns eine goldene Zukunft schenken!
Schreib das hier auf – das ist das Wichtigste aus meiner Rede gestern. Wir schicken es an die, die noch in Babylon ausharren.“ Der Schüler hat Rolle und Tinte dabei.
Er schreibt mit, der Prophet diktiert: „Höre, Israel!
7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, dass du dich deinem Nächsten nicht entziehst!
8 Dann bricht Dein Licht hervor wie die Morgenröte,
und Deine Wunde wächst eilends zu. Vor Dir her geht Deine Gerechtigkeit, die Majestät Gottes wird Dich ereilen.
9 Dann rufst Du, und Gott antwortet.
Schreist Du um Hilfe, sagt Gott: „Hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemanden unterjochst
und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,
10 sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elen-den sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Dann wirst Du sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Quelle, der es nie an Wasser fehlt.
12 Und die von Dir kommen, werden dann die uralten Trüm-mer¬stätten aufbauen, die Grundmauern vergangener Genera-tionen wirst Du aufrichten. Und Du wirst genannt werden »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, damit man dort wieder wohnen kann.”
So sagt der Prophet. Er träumt auf den Trümmern Jerusalems.

Ein Wanderprediger bringt seine Jünger zum Schweigen: Jesus
Szenenwechsel, ein letzter Schnitt. 500 Jahre später.
Ein junger Wanderprediger ist unterwegs. Er ist ein Zimmermann aus Nazareth – aber man munkelt, sein Vater stamme aus Betlehem. Nun ist er im ganzen Land unterwegs. Er predigt, er macht Mut. Die Menschen lieben seine leuchtenden Augen.
Jesus spricht vom Reich Gottes, das kommt – und dass die, die das jetzt hören, sich ändern müssen in ihrem Leben.
An diesem Morgen ist er mit seinen Jüngern auf den Ölberg gegangen. Nur sie sind bei ihm.
Jesus genießt diese Zeit, um mit seinen engsten Freunden intensiv im Gespräch zu sein. Hier können sie ihre Fragen stellen, die sie nicht zu fragen wagen, wenn andere dabei sind. An diesem Morgen haben sie kaum Platz genommen, da platzt Jakobus heraus: „Meister, Du redest davon, dass diese Welt zu Ende geht. Was wird dann sein?“
Jesus lächelt: „Vieles, was ich euch jetzt noch nicht sagen kann. Aber wenn der Menschensohn kommt am Ende der Zeit, dann wird er die Menschen beurteilen. Sie werden vor ihm stehen – die einen zur rechten, die anderen zur linken.
Denen zur Rechten wird er sagen:
Ich war hungrig – ihr habt mir zu essen geben.
Ich war durstig – ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich war nackt – ihr habt mir Kleider gegeben.
Geht ihr ins Reich Gottes! Ihr seid gesegnet!
Aber denen zur Linken wird er sagen: Geht Ihr weg von mir!
Gott hat euch verflucht! Ihr gehört ins ewige Feuer!
Denn ich war hungrig – ihr habt mir nichts zu essen geben.
Ich war durstig – ihr habt mir nichts zu trinken gegeben.
Ich war nackt – ihr habt mir nichts gegeben, um mich anzuziehen.
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.
Danach wird Gott euch beurteilen am Ende dieser Welt:
Wie Ihr Liebe und Barmherzigkeit gelebt habt.“
Die Jünger sitzen da. Für einen Moment sind sie ganz still.

Der Jom Kippur ist ein Zeichen der Versöhnung
Wie ein roter Faden zieht sich das durch die Bibel: Zum Empfangen und Danken gehört das Teilen.
Weil wir beschenkt sind von Gott, sollen wir teilen. Zu Erntedank gehört das dazu.

Drei der vier Episoden, die wir gehört haben, sind Teil der hebräischen Bibel.
Das jüdische Volk hat das erste Recht auf sie. Als Christen sind wir nur dazu erwählt, wie Paulus sagt.
Das, was ich den Propheten Tritojesaja sagen ließ – das ist der Predigttext des heutigen Sonntags – wird in drei Tagen in allen Synagogengottesdiensten weltweit vorgelesen werden.
Am nächsten Mittwoch, 9. Oktober, ist der höchste jüdische Feiertag, der ‚Jom Kippur‘. Das ist im jüdischen Festkalender der Versöhnungstag, der Gemeinschaft stiftet.
Menschen jüdischen Glaubens bringen damit zum Ausdruck: Das Recht auf Teilhabe, das Recht auf ein gutes Leben ist die gottgewollte Grundlage jeder Gemeinschaft.
Was wir von Gott empfangen haben, teilen wir in Dankbarkeit. Dann ist Versöhnung, dann ist Heilung möglich. In Gottes Namen. Amen.

Diese Predigt hielt Pfarrer Dr. Stefan Heinemann am Erntedank-Sonntag, 6. Oktober 2019,
in der Ev. Christuskirche zu Hennef.