‘Heimat’ – woran denken Sie?

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören? Lassen Sie dieses wunderbare Wort einmal für einen Moment in sich nachklingen und lassen Sie vor Ihrem geistigen Auge die Bilder aufstehen, die dieses Wort in Ihnen wachruft.
Nun? Welche Bilder haben Sie gesehen? Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, bei ganz vielen von Ihnen, so wie auch bei mir, sind Bilder aus der Kindheit aufgetaucht.
Blumenwiesen, die nie einen Rasenmäher gesehen haben; barfuß über diese Wiesen laufen, sich fallen lassen, im hohen Gras liegen, den Wolken zusehen, wie sie am blauen Himmel unaufhaltsam weiterziehen und dabei die tollsten Figuren bilden. In der Ferne muhen Kühe, eine Ameise knabbert am großen Zeh. Oder Sie haben eine Stadt vor Augen mit vertrauten Häusern und Straßen, eine Kirche mitten darin, die stolz ist und hochgebaut dem Himmel entgegenzuwachsen scheint; ein Tante-Emma-Laden mit Gerüchen, wie es sie nur gab, als man klein war, und einem großen Bonbonglas auf dem Verkaufstresen, darin Himbeerbonbons, die es heute wohl gar nicht mehr gibt. „Heimat“, das ist auch die Stube zuhause, in der sich die Familie traf, in der wir im Rockschoß der Mutter bitterlich geschluchzt und im nächsten Moment Tränen gelacht haben. „Heimat“, das ist vielleicht der Kiosk an der Ecke, hier im Rheinland das „Veedel“, ein Stück Wald mit einem Baum, in den noch ein eingeritztes Herz erahnbar ist, ein Geruch, ein Geschmack, eine Farbe. Ein Stück Geborgenheit, ein Stück Unschuld, ein Stück „Was war es schön damals“. Und für viele von Ihnen ist Heimat auch etwas, was verloren gegangen ist, bei Flucht und Vertreibung, nach Krieg und Katastrophen, durch Widrigkeiten und Umstände, die Sie sich nicht ausgesucht haben. Und wir alle wissen: Eine neue Heimat ist nie die alte, und so wichtig und nötig Willkommenskultur und Integration auch und gerade in unseren Tagen sind – wir können – und das sollen wir auch – vielleicht ein Zuhause bieten, aber Heimat? Die Heimat – das ist das Paradies gewesen. Da waren wir Kinder und hatten alles vor uns. Da durften wir sein, wie wir sind, und wir wussten uns geliebt und behütet, bei allem und in allem war da ein Urvertrauen, das sich danach nie wieder so richtig einstellen wollte.
Eine bekannte Geschichte
Auch der Predigttext für den heutigen Sonntag Invokavit hat es mit „Heimat“ zu tun. Er erzählt eine Geschichte, die uns sicher allen sehr bekannt ist. Sie erzählt davon, wie wir alle uns um unsere wahre Heimat, um das Paradies, um die Gemeinschaft mit Gott gebracht haben. Sie kennen alle diese Geschichte: Das erste Menschenpaar ist in den Garten Eden gesetzt. Es soll, so der Wille seines Schöpfers, das, was ihm da anvertraut worden ist, bebauen, hegen und pflegen. Der Mensch ist anders als die anderen Wesen, denn er kann unterscheiden, was sich daran zeigt, dass er den Tieren Namen geben soll: Wer Namen gibt, kann unterscheiden, ob da ein Hund, eine Katze oder ein Meerschweinchen vor ihm ist. Das Menschenpaar soll für die Tiere sorgen, es soll für gute Ernte sorgen, es soll für Nachwuchs sorgen. Diese Kunst des Unterscheidens und der Auftrag, den Willen Gottes in der Welt zu tun, machen den Menschen zu Gottes Gegenüber, zu seinem Ebenbild. Er darf alles im Garten nutzen, aber von einer Frucht darf er nicht essen. Doch das erste Menschenpaar wird verführt. Die Geschichte, die wir alle kennen, erzählt von einer Schlange, die Gott indirekt des Mutwillens bezichtigt und Misstrauen sät, ob das mit dem Verbot des Essens von dieser einen Frucht nicht bloße Schikane ist. Meint dieser Gott es wirklich gut mit seiner Schöpfung? Ein Mensch – die Geschichte nennt ihn später Eva – wird in der Tat misstrauisch. Er lässt sich verführen. Er vertraut der Schlange mehr als seinem Schöpfer. Schritt eins in die Heimatlosigkeit: Das Vertrauen des Menschen wird erschüttert und das Vertrauen, das in ihn gesetzt ist, missbraucht er.
Der Mensch tut das in bester Absicht: Er möchte klug werden, wie es die Schlange versprochen hat. Und der eine Mensch, den die Geschichte, die wir alle kennen, später Eva nennt, isst von der verbotenen Frucht, und auch der andere Mensch, den die Geschichte Adam nennt, lässt sich verführen, davon zu essen. Und wie die Schlange versprochen hat: Ihnen beiden werden die Augen aufgetan. Aber nicht so, wie sie es erwartet hatten. Sie werden nicht klug und wie Gott, sondern sie sterben – wie Gott es ihnen gesagt hatte, als er ihnen verboten hatte, von der Frucht des Baumes mitten im Garten zu essen. Nein, sie sind nicht auf der Stelle tot umgefallen. Das hatte Gott wohl auch nicht gemeint, als er gesagt hatte, sie müssten sterben. Sie sterben einen viel furchtbareren Tod: den Tod der Heimatlosigkeit. Sie merken, so erzählt es die Geschichte, die wir alle kennen, dass sie nackt sind. Nackt und bloß, ohne schützende Hülle – entlarvt, ent-deckt, aus der Verborgenheit ans Licht gekommen. Über ihre Nacktheit erkennen sie, dass sie hilflos und schutzlos sind – und angewiesen. Angewiesen, dass ihnen jemand Kleidung schenkt, dass die erbarmungslose Sonne sie nicht verbrennt und die kalten Nächte sie nicht erfrieren lassen. Sie werden gewahr, dass sie gefährdet sind.
Schritte in die Heimatlosigkeit
Schritt zwei in die Heimatlosigkeit: Der Mensch erkennt, dass er angewiesen ist; er war immer schon angewiesen: auf den Garten, den er nicht selbst geschaffen hat, auf die Unterscheidungsfähigkeit, die er sich nicht selbst beigebracht hat, auf diesen Schöpfer, der ihn ins Leben gerufen hat und am Leben erhalten will – aber jetzt deutet er diese Angewiesenheit als Schwäche.
Der Mensch schämt sich. Er will sich vor Gott verstecken. Vor dem, dem er vertrauen sollte, fürchtet er sich. Er weiß, dass er etwas getan hat, dass ihm sein Schöpfer verboten hatte. Er schämt sich. Er fühlt sich nackt und bloß. Obwohl er sich schon Feigenblätter zum Schutz gemacht hat. Er versucht zu verbergen. Sich selbst. Seine Nacktheit, seine Angewiesenheit.
Und schließlich seine Schuld. Der Mensch, den die Geschichte, die wir alle kennen, Adam nennt, klagt den anderen Menschen, den die Geschichte Eva nennt, an: Sie ist schuld, sie hat mich verführt, versucht der Mensch, den die Geschichte Adam nennt, sich selbst reinzuwaschen. Und der Mensch, den die Geschichte Eva nennt, tut genau dasselbe: Sie klagt die Schlange an, sie habe sie verführt. Das erste Menschenpaar sieht sich als Opfer, nicht als Täter. Schritte drei bis fünf in die Heimatlosigkeit: Scham, Furcht und die Unfähigkeit, zur eigenen Verantwortung und Schuld zu stehen. Das Menschenpaar versucht sich selbst zu rechtfertigen – und klagt sich umso mehr an.
Der Schöpfer reagiert. Alles, was er dem Menschen geschenkt hat, dass er es nutze und gebrauche zum Wohle aller, das soll er nun nicht mehr als Geschenk erfahren, sondern als Last: Das Tier wird erniedrigt und hat den Menschen nun zum Feind; die Frau soll unter Schmerzen gebären, und das Miteinander der Menschen ist nicht mehr von Gleichheit und Gerechtigkeit bestimmt; der Mensch soll mit Mühe und Not seinen Aufgaben nachgehen. Und zuletzt wird das erste Menschenpaar aus dem Garten, der ihm anvertraut war, vertrieben.
Zwar gibt ihm sein Schöpfer Felle als Kleidung, dass er nicht nackt bleibe. Aber es muss die Geborgenheit und den Schutz, den Raum, in dem ihm alles, was er brauchte, gegeben war, verlassen und darf nicht zurückkehren. Schritte sechs und sieben in die Heimatlosigkeit: Leid und Schmerz und Mühe und Not, Gefahr und Ruhelosigkeit treten an die Stelle von Ruhe und Frieden, Freude und Genießen nach getaner Arbeit. Das Paradies ist verloren. Der Mensch ist frei – aber es ist keine gute Freiheit, sondern eine Beziehungslosigkeit, ein Alleinsein, eine unaussprechliche Einsamkeit in seinem Herzen. Das, was er für Freiheit hält, nämlich in alle Richtungen gehen zu können, ist in Wahrheit Orientierungslosigkeit. Das, was er für ein wunderbares Abenteuer hält, ist in Wahrheit ein Todeskommando. Das, was er für Autonomie hält, ist in Wahrheit immer schon auf dem Weg zur Anarchie und damit zu Terror und Gewalt. Das, was er für Selbstbestimmung hält, ist in Wahrheit tödliche Egomanie, die erst andere, dann ihn selbst umbringt. Das, was er für Freunde hält, ist in Wahrheit das Böse, sind der Teufel und seine Gesellen, die ihm auflauern und ihn zu mehr verführen wollen. Das, was er für unglaubliche, unübertreffliche Angebote hält, sind in Wahrheit Lug und Trug und Gespinste wahnsinniger Selbstverwirklichungsträume. Das, was er für Anstrengungen unternimmt, sich das Paradies zurück zu erobern, treibt ihn in Wahrheit immer weiter davon weg. Und das, was er für ein für gutes Verhältnis zu seinem Schöpfer hält, ist in Wahrheit immer schon Sünde.
Dem Menschen ist, das macht diese Geschichte, die wir alle kennen, die Heimat verloren gegangen. Zusammen mit der Geborgenheit. Mit dem Urvertrauen. Mit der Unbeschwertheit.
Mit der Orientierung und Gewissheit, dass das Leben ein Geschenk ist und dass er von Gott geliebtes und behütetes Geschöpf ist.
Das erzählt der Predigttext des heutigen Sonntags. Das erzählt die Geschichte, die wir alle kennen.
Aber warum kennen wir sie eigentlich alle? Natürlich, wir haben sie oft gehört und gelesen, die Geschichte vom Sündenfall gehört sicher zu den bekanntesten, wir kennen Adam und Eva und die Schlange und den Apfel, der in der Bibel allerdings gar nicht vorkommt, aber was macht das schon. Und dann wissen wir meistens noch, dass die beiden aus dem Paradies geworfen wurden und seitdem nichts mehr so ist, wie es einmal war. Was alles zu dieser Heimatlosigkeit dazu gehört, die einzelnen Schritte – die sind uns nicht so klar. Aber genau ihretwegen ist uns diese Geschichte so vertraut. Denn eben diese Schritte – die kennen wir aus unserem eigenen Leben nur zu genau. Misstrauen, Vertrauen in falsche Versprechungen, als Folge davon Übertretung von Geboten, Scham, Furcht, die Unfähigkeit, eigene Schuld zu erkennen und zu bekennen, verzweifelte Rechtfertigungsversuche, plötzlich ist nichts mehr selbstverständlich, Schutz- und Hilflosigkeit, anstelle von Freude und Ruhe werden Leid und Schmerz und eine ständige Wanderschaft tägliche Begleiter. Das kennen wir alle. In diesem Sinn haben wir alle unsere Heimat verloren und sind auf einer bis zum Ende andauernden Pilgerschaft.
Woran denken Sie, wenn Sie an „Heimat“ denken? Ich vermute, es ist bei Ihnen auch so, dass manchmal schon eine Kleinigkeit ausreicht, um ein solches Heimatgefühl, für Sekunden, manchmal noch weniger als Sekunden heraufzubeschwören. Eine Musik, ein Geruch, eine Blumenwiese, eine Farbe, eine Stimme. Und dann sind sie wieder da, das Gefühl von Geborgenheit, von Heimat, von Unbeschwertheit und einer Gewissheit: Alles ist gut.
Das Paradies ist verloren
Es führt kein Weg daran vorbei: Das Paradies ist verloren. Wir sind ausgestoßen, ja: haben uns selbst ausgestoßen aus der Geborgenheit, aus dem Vertrauen, aus dem Heilsamen und Gewissen. Wir sind gefährdet und bedroht. Dass die Folge der Sünde diese schlimmste Heimatlosigkeit ist, das spüren wir alle auf die ein oder andere Weise.
Und doch ist da plötzlich ein Geruch, eine Farbe, eine aufblitzende Erinnerung, eine Blumenwiese, eine Musik. Mitten in aller Ruhelosigkeit plötzlich Frieden. Mitten in aller Orientierungslosigkeit plötzlich ein Weg. Mitten in aller Einsamkeit plötzlich eine Hand und Zuwendung und Geborgenheit. Mitten in allem Misstrauen plötzlich das Gefühl, bedingungslos vertrauen zu dürfen. Mitten in aller Gottlosigkeit plötzlich ein Gott, der Mensch wird. Mitten in allem Abwenden von Gott plötzlich ein Kreuz. Mitten in allem Leid, aller Angst, allem Tod, plötzlich eine gute Botschaft, eine Hoffnung, ein Versprechen des Lebens. Mitten in allem plötzlich dieser Jesus Christus, der selbst in der Wüste den Verführungsworten des Versuchers ausgesetzt war: Plötzlich dieser Jesus Christus, der weiß, wie es ist, verlassen zu sein: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“. Der weiß, wie es ist, heimatlos zu sein: „Der Menschensohn hat keinen Ort, da er sein Haupt niederlegen kann.“ Der weiß, wie es ist, inmitten von Anfeindungen und Gefahr zu leben, der weiß, wie es ist zu leiden und zu sterben. Und der weiß, dass Gott niemals untreu wird. Denn dieser Gott ist ein Gott des Lebens, und darum hat er seinen Sohn gesandt, dass er die Werke des Teufels, des Todes und der Hölle zerstöre. Mitten in allem eine Musik, ein Geruch, ein Geschmack von Heimat und Geborgenheit. Wir sind in unserer Heimatlosigkeit nicht allein gelassen. Jesus Christus ist uns Weg, Wahrheit und Leben, er lässt das Reich Gottes in unserem Glauben inwendig in uns sein, er führt uns zurück in die einzige Heimat, die wirklich gilt und zählt. Wir können diese Heimat erfahren: im Gebet, so wie Israel es in der Gefangenschaft erfahren hat, wovon wir gleich nach der Predigt musikalisch hören werden; in den Momenten, in denen wir behütet werden, wenn ein Engel uns davor bewahrt, dass wir unseren Fuß an einen Stein stoßen; wir erfahren diese Heimat dann, wenn uns Jesus Christus in anderen Menschen begegnet, die unseren Hunger und Durst stillen, uns bekleiden, wenn wir nackt sind, uns Wärme und Geborgenheit und Zuneigung schenken, uns an die Hand nehmen, wenn wir geführt werden müssen, wenn wir Trost brauchen, wenn wir sterben. Und wir erfahren diese Heimat, wenn wir Gemeinschaft haben miteinander und mit dem, der unser Weg, unsere Wahrheit und unser Leben sein will und in Brot und Wein gegenwärtig ist.
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören? Uns werden viele Bilder durch den Kopf gehen. Und ein Geruch, eine Musik, ein Geschmack. Und diese Geschichte, die wir alle kennen, gibt uns die Gewissheit, dass wir in aller irdischen Heimatlosigkeit, auf all unserer Pilgerschaft niemals von Gott allein gelassen werden und bei ihm ganz gewiss eine Heimat haben, wie oft und wie sehr wir auch eine irdische Heimat verloren haben und vermissen mögen. Die Passionszeit, in der wir jetzt stehen, führt uns unsere Heimatlosigkeit vor Augen.
Das Violett der Tücher, das fehlende Gloria, das fehlende Halleluja. Aber wir feiern Gottesdienst. Wir beten und singen zusammen und bekennen unseren Glauben. Und wir feiern gemeinsam das Mahl des Herrn. Wir stehen zusammen unter seinem Kreuz, das uns Zeichen dafür ist, welche Heimat uns bei Gott und durch Christus geschenkt ist.
Woran denken Sie, wenn Sie „Heimat“ hören?
Diese Predigt hielt Prädikantin Prof. Dr. Athina Lexutt am ersten Sonntag der Fastenzeit Invokavit, 5. März 2017 in der Christuskirche Hennef.