Im Fasten auf sich selbst verzichten

Diese Predigt über Jesaja 58 hat Pfarrer Dr. Christian Jung am Sonntag Estomihi in der Christuskirche gehalten:

Was muss das für ein Schauspiel, was muss das für ein Tumult gewesen sein! Wir schreiben das Jahr 1522. Erster Sonntag der Fastenzeit. Im Haus des Zürcher Buchdruckers Christoph Froschauer kommt eine Gruppe ehrbarer Bürger zusammen, um … man höre und staune … gemeinsam Wurst zu essen. Mit diesem gezielten Fastenbrechen setzen die Männer ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass sie sich allein der Heiligen Schrift und nichtden strengen Vorgaben derdamaligen Kirche verpflichtet fühlen.

Kaum sind die Würstchen verdrückt, tobt der Mob. Was für ein unbeschreiblicher Eklat! Was für ein Tabubruch! Die Wurstesser kommen vor Gericht. Verfechter und Gegner der Fastengebote verprügeln sich auf offener Straße und der Zürcher Reformator Zwingli entgeht nur knapp einer Entführung. Liebe Gemeinde, was für uns der Thesenanschlag Luthers ist, ist für die evangelischen  Christen der Schweiz das Froschauer Wurstessen. Wer hätte gedacht, dass ein paar Würstchen Geschichte schreiben können …es soll sich im Übrigen um zwei kleine, über ein Jahr gelagerte Rauchwürstchen gehandelt haben.

Menschen, die sich auf offener Straße an die Gurgel gehen, weil sie sich über das Fasten streiten? Das können wir uns heute beim besten Willen nicht mehr vorstellen. Einerseits gibt es keine strengen Fastenregeln mehr, an die wir uns alle halten müssen. Da haben die Reformatoren ganze Arbeit geleistet! Andererseits scheint das Fasten aber auch gar nicht mehr kritikwürdig zu sein. Im Gegenteil, es liegt voll im Trend! „Wie, Du hast noch nie gefastet? Ich habegerade eine fantastische Ayurveda-Kur gemacht. Einfach wunderbar.“ „Was, Du hast es noch gar nicht probiert? Eckhart von Hirschhausens Intervallfasten! Ich habe innerhalb weniger Wochen 5 Kilo abgespeckt!“ Und dann gibt es dort natürlich die vielfältigen Fastenangebote der Kirchen… man denke z.B.an die bekannte Aktion „7 Wochen ohne“ der Evangelischen Kirche. All diese Beispiele zeigen: von einer gewissen Vorsicht, von einer prinzipiellen Skepsis gegenüber dem Fasten ist nichts mehr zu spüren. Es wird zwar nicht mehr verordnet, aber es scheint zwischenzeitlich Teil der Ordnung geworden zu sein.

Höchste Zeit also, danach zu fragen, was denn die Bibel zum Fasten sagt und ob es aus christlicher Perspektive vielleicht so etwas wie ein ‚angemessenes‘ oder ein ‚unangemessenes‘ Fasten gibt. An dieser Stelle kommt der heutige Predigttext gerade recht. Er stammt aus dem Buch Jesaja. Im 58. Kapitel spricht der Prophet folgende Worte:

„Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.”

Liebe Gemeinde, der Prophet Jesaja trägt an dieser Stelle eine heftige Fastenkritik vor. Beliebt hat er sich damit bestimmt nicht gemacht. Vermutlich ist ihm sogar der ein oder andere an die Gurgel gegangen… wie beim Froschauer Wurstessen. Und doch enthält seine Kritik einen Gedanken, der bis heute wichtig ist. Ich will diesen Gedanken einmal sozusammenfassen: Wenn ihr fastet, dann fastet bitte nicht nur um eurerselbst willen. Zielt nicht nur auf den persönlichen Nutzen, den ihr vom Fasten habt. Missbraucht das Fasten nicht als Mittel zum Zweck!

Um diesen Gedanken zu verstehen, müssen wir uns die Situation vor Augen führen, in der die Israeliten standen. Nachdem die babylonische Gefangenschaft überwunden war, kehrten sie in ihr Heimatland zurück, um es wieder aufzubauen. Doch dieser Wiederaufbau drohte zu scheitern. Überall machte sich soziale Ungerechtigkeit breit. Die Gesellschaft zerfiel in Gewinner und Verlierer. Die Schere zwischen arm und reich ging immer weiter auseinander. In dieser Situation kam das Fasten gerade recht. Es brachte allen Beteiligten Vorteile! Die Reichen konnten sich inder Öffentlichkeit als bescheiden darstellen, ohne dabei auf ihren Reichtum und die betrügerischen Mittel zu verzichten, mit denen sie ihn erworben hatten. Und die Armen? Die konnten daraufhoffen, dass ihnen das Fasten die Zuwendung Gottes einbringt. Endlich würde er sich ihrer annehmen und die Wende bringen!

Interessanterweise war dies in der Zeit des Froschauer Wurstessensganz ähnlich… viele Menschen hielten sich gerade deswegen an die strengen Fastenregeln, weil sie sich einen Vorteil von ihnen versprachen. Sie erhofften sich nicht nur ein gesteigertes Ansehen bei ihren Mitmenschen, sie erhofften sich auch ein gesteigertes Ansehen bei Gott… ganz zu schweigen von dem ewigen Leben, das sie sich im Zugedes Fastens verdienen wollten.

Und bei den Fastenaktionen unserer Tage? Kann man da nicht – zumindest manchmal – ähnliche Tendenzen erkennen? Natürlich … die Hoffnung auf ein ewiges Leben im Angesicht Gottes spielt für viele Menschen kaum noch eine Rolle, aber die Hoffnung auf eine Verewigung des irdischen Lebens schon. Das Fasten kommt da wie gerufen. Es passt ganz wunderbar zu Fitnesswahn und Körperkult. Es gewährt nicht nur Anerkennung nach außen, sondern auch Selbstoptimierung nach innen… ganz zu schweigen davon, dass es dem Wert zuarbeitet, den unsere Gesellschaft derzeit als ihren Höchsten ausruft, den Wert der uneingeschränkten Gesundheit.

Liebe Gemeinde, wir Menschen – mich eingeschlossen – scheinen für eine Versuchung besonders anfällig zu sein. Und diese Versuchung besteht darin, dass wir alles, was wir tun, um unserer selbst willen tun… auch das Fasten. Ich will an dieser Stelle nicht falsch verstanden wer-den … es ist nicht immer schon verwerflich, um seiner selbst willen zu fasten. Es kann sogar richtig gut tun … aber die Vorstellung, die Jesaja vom Fasten hat, ist eine fundamental andere.

Jesaja sagt: „Wenn Du wirklich fasten willst, dann „lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst! Wenn Du wirklich fasten willst, dann …brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“

An dieser Stelle zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen dem Fasten, das allgemein üblich ist – damals wie heute – und dem Fasten, das Jesaja empfiehlt. Für Jesaja heißt „Fasten“ nämlich nicht, auf etwas zu verzichten … auf köstliche Speisen oder Getränke z.B. Für Jesaja heißt „Fasten“, auf sich selbst zu verzichten. Kurz gesagt: Wahrhaftes Fasten beginnt dort, wo ich mich zurücknehme und dem anderen Raum gebe. Wahrhaftes Fasten beginnt dort, wo ich seinen Hunger, seinen Durst genauso ernstnehme, wie mein Hungern, mein Dürsten. Wahrhaftes Fasten beginnt dort, wo ich seinen Wunsch nach Freiheit, nach Aufatmen-Wollen genauso respektiere, wie den meinigen. Ja, wahrhaftes Fasten beginnt dort, wo ich nicht auf etwas, sondern auf mich selbst verzichte.

Ich will ein Beispiel geben. Müsste sich nicht – gerade jetzt – der ganze Fokus des politischen Handelns darauf richten, dass alle Menschen dieser Erde Zugang zu den Corona-Impfstoffen bekommen, dass es nicht nur einen nationalen, sondern einen internationalen Impfplan gibt? Aber nein, die Impfkampagnen aller Herrenländer sind mal wieder von dem Prinzip getragen, das unser ganzes Leben bestimmt. Erst ich und dann die anderen. Erst wir und dann die. Dabei wäre es doch gerade jetzt an der Zeit, Impfstoff zu fasten… nicht nur über ein Zuwenig des Impfstoffs für uns, sondern auch über ein Zuwenig des Impfstoffs für andere zu klagen.

Liebe Gemeinde, könnte unser Selbst, das so verletzlich daherkommt… zwar nicht uneingeschränkt gesund, aber doch heil werden… indem es sich dem Anderen öffnet? Könnten wir uns am Ende des Tages finden, indem wir in der Begegnung mit dem Anderen unseren eigenen Verlust riskieren? Könnte unser Leben zunehmen … an Vitalität, an Lebendigkeit… indem wir dazu bereit sind, es einfach mal zu lassen, hintenanzustellen? Jesaja sieht das so und sagt: „Wenn Du dich selbst zurücknimmst, dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.“

Liebe Gemeinde, wenn wir den Ball aufgreifen wollen, den Jesaja uns zuspielt, wenn wir seinen Weg des Fastens beschreiten wollen, auf dem man nicht auf etwas, sondern auf sich selbst verzichtet… dann ist das eine lebenslange Aufgabe. Dabei geht es nicht darum, dieser Aufgabe immer und überall gerecht zu werden… wer kann das schon… aber es geht darum, sich dieser Aufgabe immer wieder zu erinnern, sein In-der-Welt-Sein an ihr zu orientieren.

Die Passionszeit… oder sollte ich besser Fastenzeit sagen… kann uns in diesem Zusammenhang eine gute Erinnerungsstütze sein. Schließlich gedenken wir in den kommenden Wochen eines Menschen, der den Weg Jesajas in unverwechselbarer Weise beschritten hat. Er heißt Jesus von Nazareth und sagt im Markusevangelium: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben gewinnen will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s gewinnen. Und dann wurde dieser Jesus vielen Menschen zum Hauptgewinn… bis heute… indem er sich vor aller Augen verlor.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus unserem Herrn. Am