In den Köpfen der Krieg

„Meine Studienfreundin stand neben mir. Ihr kamen die Tränen. Die Rosen, die unsere Reisegruppe niedergelegt hatte, leuchteten rot in der Sonne. Aber sie sahen sehr klein aus unter dem riesigen Mahnmal von Malyi Trostenez“, erinnert sich Stefan Heinemann, der Anfang Oktober Weißrussland bereiste. Wie das autoritäre Lukashenko-Regime Erinnerungskultur inszeniert, zeigt die innere Zerrissenheit der weißrussischen Gesellschaft, meint er. Sie ist eine Folge vergangener Gräueltaten.

In seinem Buch ‚Entlang den Gräben‘, das im Frühjahr als Reisebericht durch Osteuropa erschien, zitiert Navid Kermani eine Studie dreier deutscher Neuropsychiatiker. Danach hat die Verteilung von Mord- und Selbstmordraten einzelner Länder weltweit drei Muster: Reiche, modernisierte Länder mit funktionierendem Rechtssystem verzeichnen viele Selbstmorde und wenige Morde – Menschen dort richten ihre Aggressionen vor allem gegen sich selbst. Traditionelle Staaten mit einer schwachen Zentralregierung weisen hohe Mordraten und geringe Selbstmordraten auf – Menschen werden oft aggressiv gegen andere. Eine Ausnahme stellen wenige osteuropäische Länder dar: Dort töten Menschen überdurchschnittlich oft sich selbst – und andere. Darin unterscheiden sich diese Länder deutlich von ihren Nachbarn. Es sind dies die Länder der so genannten ‚Bloodlands‘.
Diesen Begriff prägte Timothy Snyder 2011 für die Territorien, die zwischen 1933 und 1945 unter deutscher und sowjetischer Herrschaft standen: Polen, Weißrussland, die Ukraine, die baltischen Staaten. Hier ließen die Sowjets Millionen verhungern, deportieren und erschießen. Hier wüteten die deutschen Besatzer mit Unterdrückung und Zwangsumsiedlungen, dem vorsätzlichen Aushungern der Kriegsgefangenen. Weißrussland verlor in diesen Jahren ein Viertel – manche sagen: ein Drittel – seiner Bevölkerung. Die Studie der deutschen Neuropsychiatiker zeigt, dass dieses Gemetzel immer noch im Unterbewusstsein der Gesellschaften dort wütet. 80 Jahre später ist der Krieg in den Köpfen noch nicht vorbei?

Steinmeier: Erinnerung wird zur Last
„Das Wissen um das, was an diesem Ort geschah, das wird hier zur tonnenschweren Last“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er die Gedenkstätte Malyi Trostenez Ende Juni miteröffnete. Heute ein Vorort der weißrussischen Hauptstadt Minsk, inmitten von Hochhaussiedlungen und Fabrikschloten gelegen, war Malyi Trostenez zwischen 1942 und 1944 die größte deutsche Vernichtungsstätte auf dem Gebiet der Sowjetunion. Bis zu 200.000 Menschen wurden hier erschossen.
Eindrücklich zeigt die Gestaltung der Gedenkstätte die menschenverachtende Brutalität dessen, was damals hier geschah – etwa wenn „Der Weg des Todes“ aus rohen Betonwänden besteht, die die Form von aneinander gekoppelten Viehwaggons haben. Sie lassen dem Besucher keinen anderen Ausweg als immer weiter dem Hinrichtungsort entgegen zu gehen.

Andernorts wird Erinnerung totgeschwiegen
Der Wald von Kurapaty, MinskWährend aber in Malyi Trostenez neben Bundespräsident Steinmeier auch der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko an der Eröffnung teilnahm, wird die Erinnerung andernorts in Minsk massiv unterdrückt.
Auch Kurapaty ist heute ein Vorort von Minsk. Auch im Wald von Kurapaty wurden Zehntausende Weißrussen ermordet – allerdings 1937 bis 1941 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD. Auf bis zu 250.000 wird die Zahl der Opfer hier geschätzt. Von der Autobahn aus kann man Hunderte Holzkreuze stehen sehen, die Privatleute im Wald aufgestellt haben. Eine offizielle Gedenkstätte sucht man aber vergebens. Vor Jahren sollte an diesem Ort sogar ein Einkaufszentrum errichtet werden. Dagegen formierte sich ziviler Widerstand. Im autoritären weißrussischen Staat, in dem der fünfzackige Sowjetstern heute noch an Regierungsgebäuden hängt, gibt es landesweit keinen Ort, um der Opfer des stalinistischen Terrors zu gedenken.
Weißrussland als Nation ist sich seiner eigenen Identität sehr unsicher. Nur eine Minderheit der Bevölkerung spricht im Alltag die Nationalsprache – Staatspräsident Lukashenko selbst hält seine Fernsehansprachen auf Russisch, der Sprache des großen Nachbarn. Nachdem weißrussische Kultur in der Sowjetzeit nahezu ausgerottet wurde, fällt es der jungen Nation sichtlich schwer, ihre eigenen Wurzeln wiederzuentdecken. Ist es dann einfacher, der Helden zu gedenken?

Allerheiligen-Gedächtnis-Kathedrale, MinskEin Ort nationalen Heldengedenkens
Ein neuer Ort nationaler Identifikation soll die Allerheiligen-Kathedrale in Minsk werden. Mitte Oktober feierten der orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill und Staatspräsident Lukashenko die Einweihung des Hauptaltars. Der pompöse Kirchbau in Sichtweite des Minsker Autobahnrings ist seit 1991 in Bau. Sein voller Name lautet „Kirche zu Ehren aller Heiligen und zum Gedächtnis der Ermordeten unseres Vaterlandes“.
Wer die Kirche besucht, hat die Wahl zwischen zwei Zugängen: Das Portal oberhalb der großen Freitreppe führt in den barock ausgestalteten Kirchraum, dessen Kuppel sich 74 Meter hoch erhebt.
Auf der Rückseite des Gebäudes aber führt eine schwere Metalltür in die Krypta. Im Untergrund des Kirchbaus wie in einem Unterbewusstsein wird dort an die historischen Traumata der weißrussischen Nation erinnert. An der Metalltür sind sechs ‚Tränentropfen des weißrussischen Volkes‘ eingeprägt: Tschernobyl, Trostenez sind nur zwei davon. In die gelb erleuchtete Krypta wurden Überreste von Soldaten aus den letzten drei großen Kriegen auf weißrussischem Boden umgebettet – den beiden Weltkriegen und dem Russlandfeldzug Napoleons 1812.

Wie kann man vergangener Kriege angemessen gedenken, damit die Zukunft friedlich bleibt? Welche Form des Gedenkens ist gesund für eine Gesellschaft?
In Weißrussland gibt es monumentale Mahnmale für ausgewählte Opfergruppen, aber wenig aktive Erinnerungskultur, die die Vergangenheit in all ihrer historischen Ambivalenz benennt. In diesem Land auf halber Strecke zwischen Europa und Asien kann man erleben, dass was Kriege in Menschen anrichten, fortwirkt über Generationen und Jahrzehnte. Wenn über die Ereignisse dann auch nicht gesprochen und ihrer nicht umfänglich erinnert wird, traumatisiert das eine ganze Gesellschaft.