Wenn der Mensch zum Gott wird

Gottlosigkeit gibt es nicht! Wenn man Martin Luther folgt, der schrieb: “Gott ist das, woran Du Dein Herz hängst.” Oder moderner ausgedrückt: Gott ist das, wovon du glaubst, dass es diesem Universum – über dein eigenes Leben hinaus – Sinn verleiht.

Einen solchen Sinn lebt jeder Mensch. Er wird Realität in den großen und kleinen Lebensentscheidungen, die ein Mensch trifft.
Denn diese Entscheidungen beruhen auf Werten, die Menschen glauben. Menschen glauben an Werte, weil Werthaltungen nicht empirisch oder logisch begründet werden können.

Schon der grundlegende Satz “Die Würde des Menschen ist unantastbar” widersetzt sich jeder Begründung, die weltanschaulich neutral sein will. Weltanschauliche Neutralität gibt es nicht – im Bezug auf Werthaltungen.
Denn Werte lassen sich nur begründen mit Verweis auf ein geglaubtes Weltbild. Der zentrale Pfeiler dieses Weltbildes – das, was im Sinne dieses Weltbildes der Welt Sinn verleiht – das ist Gott.

Gott ist das Zentralmotiv des Weltbildes

Jede Weltanschauung hat solch ein zentrales Motiv. In den monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam ist es die Begegnung mit einem persönlichen Gott.
Im Buddhismus ist es die Suche nach dem Nirvana, denn alles irdische Leben ist Leiden. In Weltanschauungen, die ohne den Bezug auf einen transzendenten Gott auskommen, ist es oft der Mensch, der an seine Stelle tritt.

Statt Gott der „Übermensch“

Das zeigt die Geschichte der Religionskritik: Ludwig Feuerbach und Karl Marx legten im 19. Jahrhundert dar, dass der Glaube an Gott auf subjektiven Füßen steht. Richtig so!

Friedrich Nietzsche prägte am Ende des 19. Jahrhunderts den Satz: „Gott ist tot!“ Wenn das aber so ist, so Nietzsche weiter, muss der Mensch selbst sehen, wie er alles auf die Reihe bekommt – auch die Moral. Das gehe nur durch puren Egoismus, gepaart mit Hedonismus – Nietzsche sprach vom ‚Übermenschen‘, der dies in sich vereine.

Folgerichtig fragte die Kritik der Religionskritik im Gegenzug, was denn in „gott-losen“ Weltanschauungen an die Stelle Gottes tritt: In der Regel ist es ein idealisiertes Idol des Menschen.

So war das Leitbild des deutschen Faschismus eben der germanische Mensch: Muskulös, blond und blauäugig. Auf seine Vollendung waren alle Bemühungen der NS-Ideologie ausgerichtet. Im atheistischen Stalinismus war es fast zeitgleich der kommunistische Mensch, der als Idealbild buchstäblich auf Denkmalsockel gehoben wurde.

Diese beide totalitären Ideologien allein sind für Weltkriege, Gulags und Massenmorde verantwortlich, die wohl mehr Menschen das Leben gekostet haben als heute in Deutschland leben. Kreuzzüge und Hexenprozesse verschwinden dahinter – die schlimmsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben „gottlose“ Ideologien über die Menschheit gebracht.

Die Ursünde gott-loser Ideologien

Aus christlicher Sicht lässt sich sagen: Die Ursünde totalitärer Ideologien besteht darin, zu vergessen, dass der Mensch ein begrenztes, selbstverliebtes Wesen ist. In der Gedankenfigur eines transzendenten Gottes findet dieser Mensch seine Begrenzung. Eine Weltanschauung, die ohne transzendenten Gott denken will, muss sich fragen lassen, wo sie ihre Grenzen findet.

Ein reflektierter Atheismus kann diese Klippen umschiffen – genauso wie es ein reflektierter Christenglaube kann. Aber keine der beiden Glaubensformen, weder Christentum noch Atheismus, ist vor Extremismus gefeit.Stefan Heinemann