Schwerter zu Pflugscharen

Predigt zu Mi 4,1–5

gehalten am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr am 10.11.2024

von Vikarin Mirja Petersen

Lea

Lea steht am Hang ihres kleinen Dorfes. Die Sonne des Spätsommers blendet sie.  Lea versucht nicht zu blinzeln – zu sehr zieht sie das Bild der Menge in ihren Bann. Von allen Seiten strömen Menschen herbei, wie ein Fluss aus Farben und fremden Gesichtern. Die Dorfbewohner, die sich um sie versammeln, sprechen leise, doch Lea hört ihnen kaum zu. Sie kann sich nicht von der Menge lösen. Lea hat noch nie sie so viele verschiedene Menschen friedlich an einem Ort gesehen. In ihren Gedanken fühlt sie ein unruhiges Kribbeln. „Kann das wirklich der Ort des Friedens werden? Kann der Berg Zion die Fremden zusammenbringen?“ Sie schiebt die Zweifel beiseite und taucht weiter in das Gewimmel ein, lässt die fremden Gesichter und Stimmen auf sich wirken.

An ihren weiten, sandfarbenen Mänteln und Ledergürteln erkennt Lea eine Gruppe aus Edom. Einige Männer sind groß und hager, mit tiefen, ernsten Blicken, als trügen sie die Geschichten ihrer kargen Heimat in ihren Augen. Lea fühlt Unbehagen und Ehrfurcht. Ihr Blick schweift weiter zu einer anderen Gruppe aus dem Norden – die Assyrer. Ihre Kleidung ist tiefdunkel, mit goldverzierten Bändern. Lea bemerkt, wie laut sie sprechen, ihre Stimmen klingen kräftig, und sie ahnt, dass dies Männer und Frauen sind, die das Ringen um Stärke kennen.

Wieder andere, die aus dem Süden kommen, scheinen wie Staub und Wind aus der Wüste getragen. Ihre Mäntel sind von braunem Staub bedeckt, und aus den Schatten der Tücher, die ihre Köpfe umhüllen, blitzen ab und zu neugierige Blicke hervor. Diese Nomaden und Medianiter erinnern sie an die Weite, die sich nur am Rande ihres Dorfes erahnen lässt. Sie beobachtet, wie die Kinder zwischen den Erwachsenen umherhüpfen, Stimmen und Lachen über den Staub wirbeln.

„Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Haus des Herrn!“ Die Stimme eines Mannes erhebt sich aus der Menge, und Lea fühlt, wie sich in ihr eine freudige Unruhe regt. Schritt für Schritt folgt sie den anderen, die Füße über die steinigen Pfade setzend. Dabei überkommt sie das Gefühl, dass sie nicht nur einen Berg besteigt, sondern einer Sehnsucht folgt, die sie erst jetzt wirklich versteht.

Als Lea den Gipfel erreicht, bleibt sie stehen. Das Haus des Herrn erhebt sich vor ihr, ein Ziel, das greifbarer wird und etwas Heiliges ausstrahlt. In der Stille der Menge tritt eine alte Frau hervor, ihr gebeugter Rücken zeugt von vielen Jahren Arbeit. Sie kniet nieder, legt ihre Hände auf den Boden und flüstert ein Gebet. Lea spürt, wie die Worte sie berühren, wie sich die Gesichter der Menschen um sie verändern – als hätte jemand eine Last von ihnen genommen.

Da steht eine Reihe von Schmieden auf, die an ihren Feuerstellen geschäftig arbeiten. „Da ist ja auch Barak, der Schmied aus Eilat.“ Sagt jemand. Leas Blick fällt auf den muskelösen Mann mit rußverschmiertem Gesicht. Neben ihm steht eine Kiste voller alter Waffen: Schwerter, Lanzen, Speerspitzen. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, als er seine breiten Arme über den Kopf hebt. Die Muskeln sind angespannt, als er den ersten Schlag auf das glühende Eisen niedergehen lässt. Der Hammer kracht, Funken sprühen. Schlag um Schlag, in immer gleichem Rhythmus. Das Schwert beugt sich, formt sich langsam um. Aus dem starren Metall entsteht etwas Neues, Weicheres.

Ein Junge neben Lea flüstert: „Wird es wirklich…?“ Sie bemerkt, wie die Frau neben ihm sanft nickt, ohne ein Wort zu sagen. Es ist, als teilen alle denselben Atem. Der nächste Schlag hallt, das Eisen beginnt, seine Schärfe zu verlieren. Mit jedem Hammerschlag auf das glühende Eisen wirkt Barak, als schlüge er nicht nur eine Waffe um – er schmiedet Hoffnung. Schwerter werden zu Pflugscharen, Lanzen zu Winzermessern. Lea verfolgt jeden Hammerschlag, als könnte sie selbst ein Werkzeug des Friedens werden, als wäre sie Teil dieser Wandlung.

Am Ende hebt Barak das letzte Stück hoch – eine Pflugschar. Eine tiefe Stille liegt über den Menschen, und dann ein langsames Nicken, ein Versprechen, das in ihnen allen wächst: „Niemand soll mehr für den Krieg ausgebildet werden. Nie wieder soll es Krieg geben.“ Die Worte durchdringen die Stille, sinken tief in ihre Herzen. Lea fühlt, wie die Last der Zweifel schwindet und sich etwas Unerwartetes in ihr ausbreitet – die Zuversicht, dass dieser Frieden mehr sein könnte als ein Traum.

Lisa

Es ist Montagabend, der 23. Oktober 1989 um kurz nach siebzehnuhr. Lisa steht vor der Nikolaikirche in Leipzig. Das Licht einer Straßenlaterne blendet sie. Lisa versucht nicht zu blinzeln – zu sehr zieht sie das Bild der Menge in ihren Bann. Von allen Seiten strömen Menschen herbei, wie ein Fluss aus Farben und fremden Gesichtern. Die Menschen, die sich um sie versammeln, sprechen leise, doch Lisa hört ihnen kaum zu. Sie kann sich nicht von der Menge lösen. Lisa hat noch nie sie so viele verschiedene Menschen friedlich an einem Ort gesehen. In ihren Gedanken fühlt sie ein unruhiges Kribbeln. „Kann das wirklich der Ort des Friedens werden? Können die Montagsdemonstrationen in Leipzig die Fremden zusammenbringen?“ Sie schiebt die Zweifel beiseite und taucht weiter in das Gewimmel ein, lässt die fremden Gesichter und Stimmen auf sich wirken.

Die Abendluft ist kühl, die Hände der jungen Altenpflegerin zittern leicht. Die Kälte zieht durch das Loch in Lisas Mantel. Vor Jahren trug sie dort einen Aufnäher: „Schwerter zu Pflugscharen“. Darauf war ein muskulöser Mann zu sehen, der mit breiten Armen einen Hammer über seinen Kopf schwingt. Ein Schmied, der aus Waffen Werkzeuge macht. Ein Zeichen der Hoffnung. Doch eines Morgens, als sie den Aufnäher wieder stolz an der Jacke trug, wurde sie ins Büro des Schuldirektors gerufen. Herr Schmidt zwang sie, ihn abzuschneiden, sagte, der Aufnäher sei „staatsfeindlich“. Ein Symbol, das Unruhe stifte. Das Loch blieb. Nun trägt Lisa ihren Mantel wie einen stummen Protest.

Lisas Blick wandert über die Menge. Neben ihr läuft Claudia aus ihrer Jugendgruppe. Ein Stück weiter vorne erkennt sie ihre alten Freunde Frank und Matthias. Und da, weiter hinten, Christian Führer, der Pfarrer der Nikolaikirche.

Ein Windstoß zieht über die Straße, und sie legt ihre Hand schützend um die Flamme. „Wir dürfen das Licht nicht ausgehen lassen,“ murmelt eine alte Frau neben ihr, ihre Stimme kaum hörbar. Sie nickt. Ein leises Gefühl der Angst steigt in ihr auf, doch die Wärme der Flamme beruhigt sie.

Die Menschenmasse wogt um Lisa herum, und sie spürt die Kraft der vielen Stimmen, die gemeinsam ‚Keine Gewalt!‘ riefen. Doch als sie die ersten Polizisten in grünen Uniformen sieht, krampft sich ihr Magen zusammen. Die Männer der VoPo stehen starr, ihre Augen angespannt, die Hände auf den Gewehren, bereit, jede Bewegung zu deuten. Lisa will nicht weglaufen, möchte standhaft bleiben, aber ihre Beine fühlen sich schwer an, wie festgefroren. ‚Was, wenn sie mich ansprechen?‘, denkt sie, während ihre Hand unbewusst über das Loch in ihrem Mantel gleitet. Sie spürt die Nähe der anderen Menschen, die Stille, die den Raum füllt. Keine Worte, nur Kerzen und Schritte. Eine Art stille Kraft, die sie selbst nur halb versteht, doch die sie wie eine Welle mit sich reißt. Später wird jemand im Zentralkomitee sagen: „Wir hatten alles geplant. Wir waren vorbereitet – auf alles. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Zwei Wochen vergehen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November fällt die Mauer.

Die Ereignisse vor 35 Jahren in der DDR zeigen: Schwerter werden zu Pflugscharen. Diese Vision hat auch der Prophet Micha.

Micha 4,1-5

Am Ende der Tage wird es geschehen:

Der Berg mit dem Haus des Herrn steht felsenfest.

Er ist der höchste Berg und überragt alle Hügel.

Dann werden die Völker zu ihm strömen.

Viele Völker machen sich auf den Weg und sagen:

»Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn,

zum Haus, in dem der Gott Jakobs wohnt!

Er soll uns seine Wege weisen.

Dann können wir seinen Pfaden folgen.«

Denn vom Berg Zion kommt Weisung.

Das Wort des Herrn geht von Jerusalem aus.

Er schlichtet Streit zwischen vielen Völkern.

Er sorgt für das Recht unter mächtigen Staaten,

bis hin in die fernsten Länder.

Dann werden sie Pflugscharen schmieden

aus den Klingen ihrer Schwerter.

Und sie werden Winzermesser herstellen

aus den Eisenspitzen ihrer Lanzen.

Dann wird es kein einziges Volk mehr geben,

das sein Schwert gegen ein anderes richtet.

Niemand wird mehr für den Krieg ausgebildet.

Jeder wird unter seinem Weinstock sitzen

und unter seinem Feigenbaum.

Niemand wird ihren Frieden stören.

Denn der Herr Zebaot hat es so bestimmt.

Noch rufen viele Völker, jedes zu seinem eigenen Gott.

Wir aber leben schon heute im Namen des Herrn,

unseres Gottes, für immer und alle Zeit.