Liebe + Wahrheit = Friede + Gerechtigkeit

Liebe Gemeinde,
heute rede nun ich hier in der Christuskirche als der dritte Gast in der Reihe „Friede sei mit Dir!“. Über diese Gelegenheit freue mich sehr!
„Friede sei mit Dir!“, das ist die Klammer der vier Kanzelreden in der evangelischen Kirchengemeinde Hennef und es ist auch die Jahreslosung 2019: „Suche  Frieden und jage ihm nach!“.

Frieden! Das ist schon einmal wichtig. Weil viele von uns fragen: Wo ist er denn, der Frieden? Nach außen gefragt: Die Welt wird scheinbar immer unübersichtlicher und unfriedlicher. Nach innen: Nichts ist mehr selbstverständlich, gesellschaftliche Konsense sind mehr denn je angefragt, gar angegriffen. In beiden Fällen drängt die Frage: Wie gelangen wir zum Frieden? Friedlich, mit politischen oder gesellschaftlichen Restriktionen – oder gar gewaltsam? Um diese Fragen überhaupt annähernd beantworten zu können, sollten wir klären: Was verstehen wir überhaupt unter Frieden?

In der Bibel grundlegend und im Psalm 85, Vers 11, den ich für meine Kanzelrede ausgesucht habe, finden sich viele offene und versteckte Hinweise darauf, wie wir zum Frieden finden können.

Im Psalm 85, heißt es ab Vers 9:
„Könnte ich doch hören, was Gott, der Herr redet, dass er Frieden zusagte
seinem Volk und Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserem Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen (oder: aufeinander treffen),
Gerechtigkeit und Friede sich küssen; (oder: sich rüsten)“

In „meinem“ Psalm 85, 11, über den ich heute mit euch sprechen möchte, heißt es:
„Dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen!“

Das ist ein Vers, der aus der Zeit nach der Befreiung aus dem Exil stammt. Dennoch scheint nicht alles so gut zu sein. Je nach Lesart lesen wir hier stets vom so oder so (noch) nicht eingetretenen Zustand von „Frieden und Gerechtigkeit“.

Nichts scheint so richtig zu stimmen: Nach der Rückkehr und dem Neuanfang ging der Wiederaufbau im Angesicht der persischen Fremdherrschaft nur schleppend voran. Der Alltag der Menschen war von sozialer Ungleichheit und Not geprägt. Friede herrschte weder nach innen noch nach außen. Aber es ist im Kern keine reine geschichtliche Abfolge oder eine Erzählung, sondern der Psalm lebt geradezu von der Spannung der Grundwerte „Frieden“ und „Gerechtigkeit“, ihrem Verhältnis zueinander. Eine Grundspannung, die bis in die Gegenwart reicht.

Eine ähnliche Spannung, die wir auch in dem Tugenden-Paar „Güte“ und „Treue“ entdecken, die hier einander begegnen. Schon in diesem uralten Text steckt der deutliche Hinweis, womit wir Menschen im Hier und Heute uns auseinandersetzen und um welche Grundwerte wir ringen müssen, um Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen, ohne die Güte und die Treue zu vergessen.

Viele wissen, dass nicht zuletzt wegen dieser Worte der Psalm zu einem wichtigen Text in der ökumenischen Bewegung wurde. Denn es kommen die Leitworte „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und dem folgend die „Bewahrung der Schöpfung“ zueinander.

Ursprung – ist eine solche Einordnung überhaupt heute sinnvoll?
Als ich mich mit diesem scheinbar einfachen wie eindeutigen Vers beschäftigte, wurde es immer mehr, es ging immer tiefer und wurde unübersichtlich. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?
Trotzdem: Danke für diese besondere Problemstellung! Denn so konnte ich mich mit seinem Ursprung beschäftigen – und es erinnerte mich nicht nur an so manche Religionsstunde und die Querverweise auf das Hebräische. Unter uns: Heute war es recht hilfreich – damals eher quälend. Denn im hebräischen Ursprungstext finden sich die zitierten Worte nicht so eindeutig wieder.

Hier liegt aus meiner Sicht ein umso wichtiger Schlüssel zum Verständnis und zur Entwicklung neuer Handlungsmaximen. Wir müssen es eben immer aus unserer Perspektive und Zeit lesen – und so will ich es machen und einordnen: als durch und durch politischen Text – aktuell wie eh und je. Was dürftet ihr schon anderes von einem Bundestagsabgeordneten erwarten?

Was das heißt? Wenn wir heute „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“ lesen, könnten wir dies ebenso mit „Gerechtigkeit und Frieden kämpfen miteinander!“ aus dem Hebräischen übersetzen.
Und „Güte und Treue“ müssen sich nicht zwingend „begegnen“, sondern nur „aufeinandertreffen“, ein schnödes Nebeneinander. Das wird eher nicht reichen.
Frieden, das ist mir wichtig. Und wenn ich die Zeiten vergleiche, dann muss es früher deutlich unfriedlicher gewesen sein. Doch der erste Gedanke stimmt so einfach nicht. „Shalom“ ist das hebräische Wort für Frieden und hat eine viel weitergehende Bedeutung als unser heutiges Wort Frieden. Und mir gefällt es immer besser, je mehr ich entdecke, je mehr ich verstehe.
Die Bedeutung des Shalom umfasst „Ganzheit“ und „Unversehrtheit von Gerechtigkeit“ und auch, dass alle genug im Leben und zum Leben haben. Dieser Friede bezeichnet im umfassenden Sinne das „Heilsein“ einer Gemeinschaft und umschließt sowohl den gesellschaftlichen Bereich und ihre „sozialen Gerechtigkeit“ als auch den Bereich der Natur und der gesamten Schöpfung.

Das ist ein guter Ansatz – ein Frieden, der schon den Gedanken der Gerechtigkeit enthält. Eigentlich logisch, denn dieser Shalom bezog sich zunächst einmal auf innergesellschaftliche Zustände. Und erst später wurde in das Verständnis des „Shalom“ das Verhältnis zu anderen Völkern einbezogen.

Welcher Friede? Und warum die Wahrheit wichtig ist.
Dies leite mich zu meinem Verständnis des Psalms 85,11: Es ist ein weiter Friede, und er beschränkt sich nicht auf Staaten – nein, er ist umfassend und damit fordernd. Das ist sehr modern. Nur wenn wir Frieden untereinander in unseren Gemeinschaften üben und eine Gesellschaft schaffen, in der wir Menschen einander friedlich begegnen und den „Frieden als Ganzes“ denken – so können wir der Gewalt und letztlich auch dem Krieg wirksam begegnen. So weit, so gut.

„Wo Güte und Treue einander begegnen!“
Aber auch in der Güte und Treue stecken mehr drin – und dies bewegt mich aktuell auch stärker, als ich es noch vor zwei oder drei Jahren dachte. Im Psalm heißt es „Treue“. Doch auch hier ist das hebräische Wort „emet“ vieldeutiger. Es heißt an anderer Stelle übersetzt „Verlässlichkeit“ oder „Wahrheit“.

Verwenden wir doch Wahrheit! Denn der Begriff der „Wahrheit“ muss uns heute wichtiger denn je sein. Sie ist genau so bedroht wie der Frieden. Und so gerät der Begriff von einer reinen Tugend zu einem wesentlichen Grundwert. Warum? Die Fakten und damit die Wahrheit preiszugeben, heißt die Freiheit preiszugeben. Wenn nichts mehr wahr ist, dann kann auch niemand die ungerechte, willkürliche Macht kritisieren. Es gäbe keine Grundlage mehr, von der aus man Kritik üben könnte, fehlt es doch an „Wahrheit“ wie „Erkenntnis“.
In den Vereinigten Staaten regiert ein Präsident, der ist nicht nur mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Mehr noch. Donald Trump stellt vorsätzlich die Wahrheit in Frage,
gibt nicht mehr die Lüge zu und hat letztlich so Macht erlangt. Nicht nur er – viele Populisten – auch in unserem Land nutzen die Verzerrung der Wahrheit, um zu manipulieren und Macht zu erlangen. Hier müssen wir wachsam und achtsam sein. Es ist real und es ist da. Wir müssen es erkennen.

Was für ein Widerspruch! Heute, mit unseren technischen Möglichkeiten und dem globalen Austausch, sozialen Netzwerken und digitalen Medien, verlieren wir den Überblick und damit die Wahrheit. Ganze Heerscharen sind unterwegs und reden uns ihre „Wahrheiten“ ein, die Manipulation zum eigenen Vorteil oder gar boshafte Lüge sind. So heißt es: Dass die einen alles besitzen und die anderen nichts, sei eben der Lauf der Dinge. Da kann man nichts machen. Ich widerspreche dem!

Politik, das findet nicht in einem eng gesteckten Rahmen statt. Gute Politik hinterfragt die Systeme und Ordnungen. Gute Politik setzt einen guten Rahmen für eine gelingende Gesellschaft. Eigentum verpflichtet, heißt es in unserem Grundgesetz und das bedeutet – größte Erbschaften hin oder her, auch die größten Einkommen und Vermögen müssen ihren gerechten Beitrag leisten. Auch wenn man uns glauben machen will, dass Milliardenerbschaften interne Familienangelegenheiten seien oder
eine so genannte „Initiative soziale Marktwirtschaft“ behauptet, es sei sozial, Rentensysteme zu schleifen. Nein, das ist nicht wahr!

Nur wenn ich das erkenne, kann ich über Verteilungsgerechtigkeit reden und entscheiden! Wer Frieden in seiner Gesellschaft will, der muss auf die Wahrheit achten. Wer Frieden in der Welt will, der muss die Wahrheit achten und sie beschützen.
Nicht nur, aber auch Kriege beginnen mit der Unwahrheit. Ganze Gesellschaften zerbrachen und zerbrechen an der Lüge.
Der Weg in den Unfrieden führt über die Auslöschung der Wahrheit. Denn die Wahrheit ist der Schlüssel, um die Tyrannei und den Unfrieden auf der einen Seite sowie die Freiheit und Frieden auf der anderen Seite voneinander deutlich zu unterscheiden.

Wahrheit – was bedeutet dies für das Verständnis des Psalms 85,11 heute und jetzt?
Die „Güte“ – häsäd/chesed – wird übersetzt mit „Freundlichkeit, Güte, Gnade“, aber auch mit „Liebe“. „Häsäd“ beruht auf „Verlässlichkeit“ und Gegenseitigkeit in Form der „Solidarität“.Also lese ich den Psalm 85, 11 so: „auf dass sich Liebe und Wahrheit sich begegnen!“ – sonst wird das nichts mit dem Frieden und der Gerechtigkeit.

Wandel unseres Blicks auf den Frieden
Liebe Freundinnen und Freunde, unser Blick auf den Frieden hat sich gewandelt. Zum Glück. Aber es war leider kein roter Faden vom hebräischen Verständnis des Friedens zum umfassenden Friedensverständnis heute. Wir kommen aus einer Zeit – vor kurzem! -, in der Krieg und Gewalt ein „Normalzustand“ war und der Frieden nur die Unterbrechung der üblichen Gewalt und des üblichen Mittels Krieges.

Zwar wandelte sich bereits im römischen Reich der Friedensgedanke. Pax romana! Doch dieser Friede war nur eine mit Gewalt durchgesetzte Aufhebung des Kriegszustandes. Es galt: Jeder, der sich unter die Herrschaft des Kaisers begab, genoss Schutz vor äußeren Angreifern. Der Preis solcher Schutzherrschaft? Die bedingungslose Unterwerfung der Schutzsuchenden. Gerechtigkeit? Nein, im Gegenteil: Das war ein ungerechter Friede!
Mit dem Christentum entstand eine anders geartete Friedensidee in Europa. Und der neue Gott hat nichts mehr gemein mit den streitbaren Göttern der Antike. Gott als „Gott des Friedens“ und sein zur Erlösung der Menschen auf die Welt herabgeschickter Sohn ist der „Friedensfürst“. Vereinbart wurde, dass jeder der an ihn glaubt, darum einer persönlichen Friedenspflicht unterliegt, die jeder Form von Gewalt entsagt.
Frieden soll herrschen – in jedem einzelnen Menschen, im Verhältnis der Menschen untereinander und in der Gemeinschaft mit Gott.

Doch es kamen die Erfahrungen vieler Kriege und zweier Weltkriege, denen wir zum Ende des Jahres 2018 beispielsweise mit Blick auf den November 1918 gedachten. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Schaffung der einzigartigen Vereinten Nationen und der bahnbrechenden Entscheidung, dass zwischen den Staaten Souveränität und Gewaltfreiheit zu herrschen haben. Die Herrschaft des Rechts! Da steckt Gerechtigkeit drin!

Es war eine neue Grundlegung. Nicht mehr die Abwesenheit von Krieg definiert den Frieden. Sondern der Frieden ist der Normalzustand und der Krieg ist zu ächten.

Offenes Wort. Es gab sicher auch andere Gründe. Wirtschaftlicher Natur, zum Beispiel. Das bekannte Zitat des griechischen Philosophen Heraklit lautet: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge!“. Heute, und ich meine seit den 50er Jahren, muss es lauter denn je heißen: „Der Krieg ist das Ende aller Dinge“ – umso mehr angesichts der jederzeitigen atomaren Mehrfachvernichtung unserer Welt.

Ja, nach dem nächsten großen Krieg ist das „Nichts“. Und sollte hiernach doch noch einmal ein Buch geschrieben werden, so hieße es zu Recht an seinem Anfang: „Die Erde aber war wüst und leer“.

Das ist leider keine Geschichtserzählung. Denn die heutige Kündigung des Verbots der Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen und ihrer technischen Weiterentwicklung ist nur wenige Tage alt. Ein weiteres Kapitel der Geschichte des Unfriedens und des Krieges wird gerade vor unseren Augen geschrieben. Wir sehen, die Bedrohung durch immer stärkere Waffen. Doch immer mehr Waffen schaffen ihn offenbar nicht, den Frieden. Der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt erkannte diese innere Ordnung als er sagte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Das ist mir wichtig. Und eine Einordnung. Doch die Lösung und der Schlüssel müssen woanders liegen.

Frieden untereinander – vom Einzelnen zu den Staaten: Es ist der Mensch und sein Tun und Verantwortung
Ich habe in Vorbereitung auf heute einen Brief Anne Franks an ihre Freundin Kitty gefunden. Anne Frank, gestorben im Konzentrationslager Bergen-Belsen – eines der zahllosen Opfer des Nationalsozialismus. Sie schrieb:
Liebe Kitty, (..)Du kannst Dir sicher denken, wie oft hier verzweifelt gefragt wird: „Wofür, oh, wofür nützt nun dieser Krieg? Warum können die Menschen nicht friedlich miteinander leben? Warum muss alles verwüstet werden?“
Diese Frage ist verständlich, aber eine entscheidende Antwort hat bis jetzt noch niemand gefunden. (…) Ich glaube nicht, dass der Krieg nur von den Großen, von den Regierenden und Kapitalisten gemacht wird. Nein, der kleine Mann ist ebenso dafür. Sonst hätten sich die Völker doch schon längst dagegen erhoben!

Anne Frank schrieb: „Der kleine Mann ist ebenso dafür. Sonst hätten sich die Völker doch schon längst dagegen erhoben!“
Anne Frank erinnert uns an etwas sehr Wichtiges. Dass es jeder einzelne Mensch ist, der den Krieg ermöglicht oder den Frieden nicht erreichen will. Umgekehrt: jeder von uns kann dafür oder dagegen sein. Für den Frieden.
Diese Gedanken gehören zusammen. Die Geschichte des Mittelalters und der ungerechte Frieden, die christlichen Friedensgedanken, die Erfahrungen der Kriege, die Worte der Bibel, die Hinweise Anne Franks und die aktuelle Erfahrung der hochgerüsteten, unfriedlichen Welt.

Es gibt ihn nicht, den gerechten Krieg.
Paradoxerweise gibt es ihn, den ungerechten Frieden ebenso wie den gerechten Frieden.
Denn ein Frieden ohne Gerechtigkeit, ist nur ein scheinbarer Friede. Und niemand kann sagen: Das betrifft mich nicht. Das ist anderer Leute Sache. Durch Gerechtigkeit – im Kleinen und im Alltäglichen – üben wir zumindest den sozialen Frieden.

Ich komme auf das hebräische „Shalom“ – den, so nenne ich ihn, weiten Frieden zurück. Dieser Frieden geht aus von den innergesellschaftlichen Verhältnissen. Umfasst den sozialen Frieden – und ob soziale Gerechtigkeit herrscht. Für mich als Sozialdemokraten ist die Bedeutung der „sozialen Gerechtigkeit“ entlang der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität keine Leerformel. Jeder Mensch kann jeden Tag den Frieden ermöglichen und ihn jeden Tag etwas möglicher machen. Aber man kann ihn nicht nur am Wahltag irgendwo bestellen und sagen: Das reicht jetzt aber.

Wir beobachten eine Welt, in der Konflikte zunehmen, innerhalb der Gesellschaften. Verteilungsgerechtigkeit ist ein bereits genanntes Stichwort. Aber nicht nur global.
Uns geht es ja gut! Doch wie ist es in Deutschland heute? Stetes Wirtschaftswachstum!
Gleichzeitig die Zunahme prekärer Beschäftigung, die Sorge um die Arbeit und die Umwelt. Und immer weniger Menschen können schritthalten oder teilhaben am gesellschaftlichen Mehr. Die Wohnung teurer, die Klassenfahrt unbezahlbar. Der Kinobesuch nicht möglich.

Auch das hat mit sozialen Frieden zu tun! Ja, zentraler denn je. Denn Ungleichheit ist der größte Sprengstoff im 21. Jahrhundert. Zwischen sozialen Gruppen. Zwischen den Geschlechtern. Ebenso wie zwischen den Staaten. Den Menschen, die viele Chancen haben, darauf ihr Leben frei und selbstbestimmt zu verwirklichen und den Menschen, die keine Chance haben, weil sie zu wenig haben und es keine Macht mehr gibt, die sie schützt.

Warum lassen wir es zu, dass in einem so reichen Land wie Deutschland Kinder in Armut aufwachsen? Haben wir nicht gerecht genug verteilt?
Warum nehmen wir es gleichgültig hin, dass Menschen sich auf den Weg durch die Gefahren des Mittelmeers zu uns aufmachen, weil sie politisch verfolgt werden oder schlichtweg keine Perspektive in ihrem Heimatstaaten haben?

Damit ist eine Frage der Gerechtigkeit, über die zunehmende Ungleichheit zu sprechen und sie in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Die obszöne Verteilung des Reichtums, so dass heute 26 Superreiche genau so viel haben, wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, darf nicht unwidersprochen bleiben und erst recht nicht ungelöst. Erst durch gerechte Steuern auf Einkommen und Vermögen begegnen wir dem und sorgen zugleich für ein gerechtes, ausreichend finanziertes wie leistungsfähiges Gemeinwesen.

Und aus dem Kampf für soziale Gerechtigkeit in jeder Gesellschaft ist ein Kampf gegen die zunehmende Ungleichheit in der Welt und in den Gesellschaften zu machen. Wer Gerechtigkeit will, darf die Gleichheit nicht vergessen und muss der Herausforderung der Sprengwirkung immer größerer Ungleichheit begegnen. Der muss den Staat als handlungsfähige Ebene stark machen und für eine kritische Gesellschaft sorgen, die ein Seismograf der Unwuchten sein muss und die Wahrheit wie die Schwächsten ihrer Mitglieder schützt. Und das bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern die Augen nicht davor zu verschließen, dass in der Mitte unserer Gesellschaften die Fliehkräfte zunehmen und dies Wirkungen auf den Frieden hat. Im Innern wie im Äußern.

Da ist er: Der Kampf von Frieden und Gerechtigkeit, die sich küssen können, indem sie sich vereinen. Wir sind eben nicht allein. So wie wir leben, erzeugen wir Wirkungen in anderen Teilen unserer Welt. Wie wir konsumieren, wie wir reisen, wie wir leben, konkret: Wie wir Gerechtigkeit untereinander üben. Wie wir mit dem Nächsten umgehen.

Die Globalisierung ist die Herausforderung unserer Zeit. Wie lange nehmen wir noch hin, dass diese Globalisierung nicht gerecht ist? Diese Globalisierung muss mehr Gerechtigkeit für alle bedeuten und nicht nur Reichtum für wenige und Sorgen und Nöte für viele – oder gar Zerstörung ihrer Heimat und Umwelt.

Und so wird diese unsere Gerechtigkeit konkret, für die wir jeden Tag streiten und sorgen können. Es wäre der soziale Friede nicht nur im Innern unserer Gesellschaft. Dies ist nur der Beginn. Wir brauchen eine Keimzelle, um die gesamte Weltgesellschaft sozialer und gerechter zu machen und damit Frieden erst zu ermöglichen.

Liebe Freundinnen und Freunde, der Glaube, dass Gott uns ein Leben in Gerechtigkeit verspricht, will uns dafür bereit machen und uns die Augen öffnen. So können wir im Hier und Jetzt ihn erfahren und wissen, woran wir unser Handeln ausrichten können. Ganz bestimmt ist es aber auch eine Verpflichtung, im Hier und Jetzt für die Gerechtigkeit einzutreten. Also eine zutiefst protestantische Sicht auf das Thema, das keine Verlagerung in ein wie auch immer geartetes jenseitiges Paradies duldet.

Wo wir für den gerechten Frieden streiten können, müssen wir streiten. Wo und wie wir ihn leben können, müssen wir ihn leben. Die von mir eingeordneten Grundwerte Wahrheit und Liebe, Gerechtigkeit und Frieden bedingen einander. Sie müssen zueinanderkommen, um eine lebenswerte Gemeinschaft zu bilden, in der Frieden möglich wird und dann auch herrscht und stets aufs Neue verteidigt wird.

Es heißt in Jesaja 32, 17: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ Amen.

Diese Kanzelrede hielt der SPD-Landesorsitzende Sebastian Hartmann, MdB am Sonntag, 10. Febraur 2019 in der Christuskirche Hennef. Hartmann ist seit Juni 2018 Vorsitzender der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen. Für den Rhein-Sieg-Kreis zog er 2013 erstmals in den Bundestag ein. Dort war er u.a. als Mitglied des Innenausschusses für die Themen Migration und Integration zuständig.