Kirche ist wie Baustelle: Renovierungs- bedürftig

Liebe Gemeinde,

wo fangen Sie an, wenn Sie zuhause renovieren wollen? Wenn wir uns dazu aufraffen, es zuhause mal wieder so richtig schön zu machen, dann sind meistens zuerst die Wände dran, die völlig neu tapeziert oder zumindest neu gestrichen werden wollen. Fußböden ist schon heikler, da müssen nämlich alle Möbel raus. Und wenn man ohnehin schon mal mit den Möbeln dran ist: Das Sofa und das Schlafzimmer haben ihre besten Tage auch schon lange hinter sich. Aber selbst, wenn wir so ziemlich alles auf den Kopf stellen, kämen wir doch wohl nicht wirklich auf die Idee, das Fundament zu erneuern oder gleich in eine neue Wohnung zu ziehen, oder? Obwohl das – so jedenfalls der Eindruck, wenn man mitten im Brass und im Dreck und im Aufräumen ist – manchmal einfacher wäre.
Das Fundament. Eine Kirche, die immer und stets auf Reformierung angewiesen ist. Eine Gemeinschaft, die gestaltet sein will und die gestalten will. Was ist Kirche?

♦ Filmeinspieler mit Aufnahmen aus der Christuskirche und um die Kirche herum, dazu „Bless the Lord my soul“. (Fotos, Filme und Filmzusammenstellung: Athina Lexutt)

Das, was Sie gesehen haben – das ist unsere Kirche. Hier in Hennef. Bunt. Eine große Gemeinde, reich an Menschen, die Angebote machen und die Angebote annehmen.
Eine große Zahl an Menschen, die ihre Kirche gestalten, die unserer Kirche hier in Hennef ein Gesicht geben.
Das Klecks. Die Fahrräder der Konfis und deren aufgeregtes Geschnatter. Der Jerusalem-Leuchter.
All die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Chöre. Dieser Raum hier.
Unsere Gesangbücher, bei denen manchmal die Bändchen vom vielen Gebrauch so kurz geworden sind, dass man sie gar nicht mehr als Lesezeichen verwenden kann.
Das Pfarrteam mit seinen  unterschiedlichen Talenten. Die Feste. Die KiTa.
Die Gottesdienste in ihrer ganzen Vielfalt: crossmedial, musikalisch, für Kleine und Große, mit Kanzeltausch. Und meistens ganz „normal“.
Der Kreis beim Abendmahl. Das Glockengeläut. Die Osterkerze. Das alles und noch viel mehr, das ist unsere Kirche. Aber ist das „Kirche“?

Ich glaube, wenn ich Ihnen jetzt ein Mikrofon unter die Nase halten und Sie fragen würde: „Was ist für Sie Kirche?“ – ich würde so viele Antworten bekommen, wie heute Menschen hier sind. Keine Angst, ich mache das jetzt nicht, das mit dem Mikro unter der Nase. Aber ich frage einmal exemplarisch jemanden, der diese Gemeinde schon auf den Tag genau 20 Jahre kennt: Antje, was ist für Dich „Kirche“? Und was meinst Du, gehört dazu, sie zu gestalten, zu renovieren, zu reformieren und lebendig zu halten?
… (Statement Antje Bertenrath)

Eine Stimme. Eine wichtige Stimme in dieser Gemeinde, gewiss. Aber nur eine Stimme unter vielen. Was ist denn nun Kirche? Und wie gelingt es, sie in Zukunft und für die Zukunft zu gestalten?

♦ ♪ Liedstrophe 357, 1 („Ich weiß, woran ich glaube“)

Wir feiern heute den 500. Geburtstag der Reformation. Martin Luther hat neu zur Sprache gebracht, was es heißt, dass niemand einen anderen Grund legen kann als den, der schon gelegt ist, nämlich Christus. Wer Kirche sein will und Kirche gestalten will, der kann dies auf keinem anderen Fundament als auf Jesus Christus. Wer Kirche sein und gestalten will, der baut auf keinem anderen Grund als auf Jesus Christus. Wer Kirche sein und gestalten will, der wird erkennen, dass allein Jesus Christus der Eckstein ist, der alles zusammenhält. Das ist es, was Luther entdeckt hat.

Der Missbrauch des Ablasses, der Luther zu seinen Thesen veranlasste, weil er sah, was für einen Schaden das an der Seele der Menschen hinterließ – dieser Missbrauch ist nur ein Beispiel für das, was geschieht, wenn dieser Grund nicht mehr ernstgenommen, nicht mehr gelehrt, nicht mehr gepredigt wird. Deshalb hat Luther dagegen aufbegehrt, aus keinem anderen Grund. Und deshalb hat er nicht nachgelassen, sich für das Evangelium einzusetzen und gegen alles und alle anzuschreiben und zu lehren und zu predigen, die sich selbst zum Fundament und zum Fels machten, die sich die Autorität zuschrieben, die allein Christus und der Schrift, die Zeugnis von Gottes gutem Wort gibt, gebührt; deshalb hat er gegen alle und alles gekämpft, was sich über Christus erhob und abstritt, dass es an ihm vorbei keinen Weg zum Heil gibt; deshalb hat Luther widerstanden, als er aufgefordert wurde, seine Lehren zu widerrufen – er sah Christus verraten, wenn er dem nachgibt. Deshalb ist Luther auch heute noch so stark und so kraftvoll: Er hat Flagge gezeigt, er hat gegen alle Widerstände seinen Glauben bekannt – und auch, wo er fehlgegriffen,
mitunter schrecklich fehlgegriffen hat, da tat er das, weil er für diesen Christus kämpfen wollte.

Nein, spalten wollte Luther die Kirche seiner Zeit nicht. Aber er wollte und musste dafür kämpfen, dass diese Kirche in ihrer sichtbaren Gestalt wieder näher an das rückt, was mit Kirche gemeint ist. Denn „Kirche“ ist in ihrem Wesen die Gemeinschaft der Heiligen, in ihrer sichtbaren Gestalt aber immer eine bunte Mischung aus allem Menschlichen. Diese Unterscheidung, die Luther in seiner Zeit traf, zwischen wahrer Kirche und sichtbarer Kirche ist ungeheuer wertvoll. Sie schützt nämlich davor, von der Kirche, die wir sehen und anfassen können, das Heil zu erwarten.

Nein, die Kirche, die wir sehen und anfassen können und gestalten sollen, die ist alles andere als perfekt und vollkommen, und sie wird es auch nie sein, solange diese Welt ist. Sie ist fehlerhaft und voller Irrtümer, und sie ist als Ganze immer auch sündig und auf Vergebung angewiesen. Trotzdem aber begegnet in ihr und nirgends sonst das, was „Evangelium“, was „frohe Botschaft“ heißt, denn in ihr hören wir das Wort, das am Anfang war, in ihr bekennen wir uns gemeinsam zu dem Grund, auf dem wir alle stehen, und in ihr feiern wir die Gemeinschaft, die in Jesu Christi Namen heilsame und tröstende Gemeinschaft ist und im Sakrament erfahrbar wird. Diese Kirche, in all ihrer Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit, ist durch Wort und Sakrament ein sichtbares Zeichen dafür, dass wir auf dieses Wort Gottes, das am Anfang war, bauen dürfen; ein Garant, dass Gott in der Welt mit all den Anfeindungen, Problemen, dem Angstmachendem und Herausforderndem mitten unter uns ist und uns niemals allein lässt; sie ist eine Hoffnung, dass es trotz allem Widersprüchlichem und Misslingendem am Ende gut wird, dass wir dann auch ganz und gar und ungeteilt erfahren werden, dass Gott uns in seinen offenen Armen geborgen hält, dass wir uns dann als die Heiligen erfahren, die durch sein Wort heil gemacht sind.

In dieser Welt leben wir in vielen Wohnungen, unterschiedlich eingerichtet, mit ganz verschiedenen Möbeln, unsere Einrichtung ist ganz anders als die des linken Nachbarn und nochmal anders als die der Leute über uns. Wir leben in unserem kleinen Kosmos „sichtbare Kirche“ und gestalten den, so gut es eben geht. Wir sind aber – und das vergessen wir manchmal – Teil einer großen Hausgemeinschaft, einer großen Ökumene, wie das Wort Hausgemeinschaft griechisch heißt. „Ökumene“ ist nicht dann erreicht, wenn wir alle in einer Wohnung mit gleicher Einrichtung leben, sondern wenn wir begreifen, dass wir mit unserer Wohnung Teil dieses viel Größeren sind. Luther hat das begriffen. Und er hat vor allem begriffen, dass nur einem das Haus gehört: Jesus Christus. Und dass alle, die in seinem Namen in diesem Haus leben, eben darum Christen sind, eben darum heilig sind: heil durch   sein erlösendes Wort. Das macht die Kirche zur „heiligen“ Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen. Nicht, weil sie selbst oder die Menschen in ihr besonders „rein“, besonders vorbildhaft wären, weil sie viele gute, christliche Werke täten; sondern weil sie darauf vertrauen, dass sie in all ihrem Irregehen und Fehler-Machen und Misslingen und Scheitern von diesem Gott dennoch geliebt sind; daraus schöpfen sie Kraft, sich selbst und dem Nächsten in Gedanken, Worten und Werken die Liebe entgegenzubringen, mit der sie von Gott angeschaut sind.

Das, liebe Gemeinde, das macht Kirche aus. Kirche ist ein Geschenk Gottes an uns. Denn sie bietet einen Freiraum, einen Raum der Gewissheit, einen Raum des Trostes. Und wenn wir wissen, dass wir als sichtbare Kirche in dieses Wesen der Kirche immer nur hineinwachsen können, wird auch deutlich, dass diese sichtbare Kirche sozusagen immer eine Baustelle bleiben muss, denn es gibt immer mal etwas aufzuhübschen, etwas auszubessern, etwas ganz neu zu gestalten, etwas an den Geschmack der Zeit anzupassen, auch mal etwas einzureißen und neu zu bauen. Die sichtbare Kirche ist immer reformierungsbedürftig. Das macht sie nicht  weniger wertvoll. Denn es bleiben das Wort Gottes und das Sakrament, die das Ganze zu „Kirche“ machen. Wir haben das heute Morgen auf ganz eigene Weise vor Augen: Die neue Altarbibel, das ist die neue Übersetzung von 2016. Das Wort in ihr aber ist das Wort Gottes, das unvergänglich bleibt. Das Wort Gottes bleibt – gleich, wie wir es verstehen und übersetzen, und es bleibt auch dann, wenn wir es verleugnen oder vergessen. Das ist Kirche!
Dass Luther das wiederentdeckt hat – das feiern wir heute!

♦ ♪ Liedstrophe 357, 4 („Ich weiß, woran ich glaube“)

Wenn Sie zuhause renovieren wollen, wo fangen Sie da an? Bei uns zuhause steht demnächst die Küche an, und glauben Sie mir, einerseits graut mir vor all dem, was dann zu tun ist.
Andererseits freue ich mich natürlich auch darauf, denn die neue Küche steht ja nicht nur deshalb auf dem Plan, weil ich ein Predigtthema brauchte und „Küche“ fast so klingt wie „Kirche“. Nein, es soll ja wieder hübsch aussehen, moderner, praktischer. Ohne dass es aufhörte, „Küche“ zu sein.
Es wird sich, das weiß ich jetzt schon, auch mehr verändern als nur die Küche. Aber auf die Idee, ans Fundament zu gehen, komme ich natürlich nicht. Es ist ja eins da.

Luther hat auch kein neues Fundament gelegt. Aber er hat das marode Haus darüber zum Einsturz gebracht, damit dieses Fundament wieder sichtbar wird. Reformation im 16. Jahrhundert war nicht einfach nur oberflächliche Kritik an der Kirche. Die Hammerschläge an der Kirche sollen nicht schlagen, erst recht nicht erschlagen, und sie nageln auch keine Türen zu – sie sollen Türen öffnen. Das wollten sie damals, das haben sie heute Morgen getan. Auch heute sollte also nicht ein Stammtischgenörgel an allem Kirchlichen im Vordergrund stehen und alles in einem „Was ich meiner Kirche schon immer mal sagen wollte“ enden. Das war im 16. Jahrhundert nicht und ist auch heute keineswegs reformatorisch! Es ging und sollte auch heute vielmehr wieder darum gehen, das Fundament, auf dem Kirche steht, neu zu entdecken: Jesus Christus, in seinem Leben und Leiden, seinem Kreuz und seiner Auferstehung. Er, das fleischgewordene Wort, das am Anfang war und bis zum Ende bleiben wird und das wir nach dem Ende schauen werden, trägt uns durch dieses Leben.

Gott ist, der er ist, und er ist es für uns. Das feiern wir in jedem Gottesdienst. Das bekennen wir. Davon zeugt der Text, den wir als Lesung gehört haben: Es ist alles offenbar, was wir wissen müssen und bekennen sollen voreinander und in der Welt. „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel.“ So ist es uns zugesagt von dem Grund, auf dem wir alle stehen.
Ich wünsche uns allen, dass wir den Impuls dieser Geburtstagsfeier heute, diesen Schwung mitnehmen auf unserem weiteren Weg als Kirche, dass wir nicht müde werden, diese unsere Kirche zu gestalten und zu reformieren, wenn es an der Zeit ist. Ich wünsche uns allen, dass wir mit Luther den Mut beibehalten, uns dazu auch in unbequeme Situationen zu manövrieren.
Ich wünsche uns allen, dass wir Flagge zeigen. Die  Flagge, die das Lamm Gottes trägt. Ich wünsche uns allen, dass wir uns immer wieder auf dieser Baustelle „Kirche“ treffen und im gemeinsamen Feiern zugleich weiter daran bauen, was es heißt, „Kirche“ zu sein und Kirche zu gestalten.
Ich wünsche uns allen, dass uns dabei nie die Phantasie ausgeht und wir uns unserer theologischen Verantwortung dabei bewusst bleiben.
Ich wünsche uns, dass wir erfahren, dass es einen an unserer Seite gibt, der uns bei all dem begleitet und stärkt und wieder aufrichtet, wenn etwas schiefgeht. Der heißt Jesus Christ.
Ich wünsche uns, dass dieses Wort, das am Anfang war, stehen bleibt und uns im Leben auch unserer Kirche so begegnet, dass wir davon leben können.

Kirche verstehen und Kirche gestalten – das geht nicht ohne Besinnen auf diesen Grund, der gelegt ist und den Luther vor 500 Jahren neu ins Licht gebracht hat.
Dieses Besinnen, das Trost, Freiheit und Gewissheit schenkt, lege Gott, unser Herr, in unsere Herzen und Sinne. Amen.

Diese Predigt hiel Prädikantin Prof. Dr. Athina Lexutt im Festgottesdienst
zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 2017 in der Christuskirche, Hennef.