Gegen die Einheit der Kirchen

Die Aufspaltung der Christenheit in viele Konfessionen und Kirchen empfinden viele als schmerzlich. Aber warum nur? Der Wunsch, dass es nur eine Einheitskirche gäbe, widerspricht dem Charakter der Bibel – sowie dem Denken der Reformation. Pfarrer Stefan Heinemann plädiert dafür, dass es weiter viele Kirchen geben soll. Sie sind eine Bereicherung!

Das höre ich in Gesprächen immer wieder mal: Warum gibt es eigentlich noch die katholische UND die evangelische Kirche? So vieles ist doch gleich bei Euch! Und manchen fallen dann noch andere Kirchen ein: die orthodoxen Kirchen Osteuropas, die Freikirchen, die anglikanische Kirche, …
Tatsache ist: Gleich sind wir noch lange nicht. Auch wenn sich in den letzten 100 Jahren die christlichen Kirchen stark angenähert haben. Aber die Frage ist richtig: Wollen wir am Ende eine Kirche, die alle christlichen Glaubensrichtungen unter einem Dach zusammenfasst? Braucht das Reformationsjubiläum 500 Jahre nach Luther ein Rollback – zurück zur Einheitskirche?

Das Streben nach EINER Kirche ist Wunschdenken
Ich denke, das ist Wunschdenken. Und ich kann es begründen mit der Bibel: Schon das Neue Testament in seiner Form begründet gerade nicht die Einheit der Kirche. Schlagen Sie nach, es sind vier Evangelien, die manchmal sogar widersprüchlich von Jesus berichten. Alle vier bezeugen ihn als den Gesalbten, den lang erwarteten Messias und Sohn Gottes.
Aber jeder Evangelist hat seine eigene Sicht auf den Mann aus Nazareth. Wo Matthäus den Ethiker und großen Redner der Bergpredigt hervorhebt, hat Johannes den Mystagogen vor Augen: Im kleinen Kreis nur erfährt bei ihm die Jüngerschar die innersten Geheimnisse des Gottessohnes. Lukas dagegen ist Historiker: Er ordnet Jesu Biographie in den großen Bogen der Weltgeschichte ein. Und Markus erzählt in schlichtestem Griechisch, dass Jesus lange ein Geheimnis um seine Wunder machte.
Vier Evangelien, vier Versionen. An welchen Jesus sollen wir glauben?

Aber wichtiger noch: Es sind ja nur Fetzen der Verkündigung der ersten Christen, die wir haben. Die Evangelien sind Ausschnitte einer heftigen Diskussion. Die ersten Christen fragten: Wer war Jesus? Was wollte er – für die Menschen und mit den Menschen? Und sie fanden ganz unterschiedliche Antworten.
Wie vielgestaltig Jesus im Neuen Testament bezeugt wird, zeigt nur: Schon kurz nach Jesu Auferstehung gab es eine Fülle verschiedenster Glaubensrichtungen nebeneinander, nacheinander – und gegeneinander. Dass es jemals eine einheitliche christliche Kirche gegeben hätte, ist reines Wunschdenken!

Jede Konfession ein Glied am Leib Christi
Dass aber so verschiedenartige Zeugnisse Teile der Bibel wurden, zeigt auch: Die Gemeinschaft der Christen konnte solche Gegensätze nebeneinander stehen lassen und gleichzeitig bezeugen. Im Bewusstsein, dass alle diese Meinungen Teil der Christenheit, Teil des Leibes Christi sind.
Der Theologe Oscar Cullmann legte so ein bekanntes Bild des Apostels Paulus aus: Wenn Paulus vom einen Leib mit vielen Gliedern schreibt (1. Korinther 12), dann ist es Tradition, dieses Bild auf Individuen der Gemeinde zu beziehen. So wie ein Körper Hand, Fuß und Augen braucht, so benötigt eine Gemeinde Menschen, die Kranken helfen, predigen und sich mit Finanzen auskennen. Weil jeder seine Talente einbringt, wächst die Gemeinschaft.
Cullmann aber bezieht dieses Bild auf die christlichen Glaubensgemeinschaften. Jede Konfession ist ein Glied am Leib Christi. In einer hört man gute Predigten (evangelisch?), in einer anderen erlebt man beeindruckende Liturgien (römisch-katholisch?). Eine kann gut Frieden stiften weltweit (Mennoniten!). eine andere ist international und vielsprachig (Migrationskirchen!). Gemeinsam zeigen sie die vielen Gesichter Christi!

Jede Konfession hat ihre Stärken
Jede Konfession darf ihre Stärken leben – und sich von den Talenten der anderen bereichern lassen. Auch das ist “vergnügt, erlöst, befreit”. Luther war wichtig: Jede und jeder hat seinen eigenen direkten Draht zu Gott. Weil Menschen aber unterschiedliche Lebensläufe haben, machen sie verschiedene Erfahrungen mit Gott. So lange jedoch jede und jeder sich bewusst ist, dass ihr Bild von Gott nicht letztgültig ist, können wir die Mannigfaltigkeit der christlichen Glaubensformen als Bereicherung erleben. Gerade nicht meinen, zum Reformationsjubiläum die viel gescholtene Spaltung der mitteleuropäischen Christenheit um jeden Preis rückgängig machen zu müssen – der Rest der Christenheit wurde übrigens schon 500 Jahre bzw. 1.300 Jahre bzw. 1.700 Jahre vorher ‘gespalten’. Nein, lasst uns die Vielfalt “vergnügt, erlöst, befreit” genießen!

Also: Bitte keine Einheitskirche, in der alle uniform glauben müssen! Gerade die Vielfalt der Kirchen bereichert uns als Christen. Wir haben schon 2.000 Jahre Erfahrung damit. Warum das jetzt ändern?

Stefan Heinemann