Predigt: Die Seele aus dem Leib beten
Diese Predigt hielt Prädikantin Prof. Dr. Athina Lexutt m Sonntag Rogate, 5. Mai 2024 in der Hennefer Christuskirche.
Liebe Gemeinde,
ich hoffe, Sie haben alle einen oder eine, einen oder eine, bei dem oder der Sie mitten in der Nacht anrufen oder sogar vorbeikommen können und der oder die Sie nicht entgeistert anblafft oder sogar harsch abweist. Ich hoffe, Sie haben alle einen oder eine, der oder die Sie dann einfach ohne viel Fragen hereinbittet, Sie aufs Sofa setzt, ein Wasser, ein Bier oder einen Tee bringt und Sie reden lässt. Dem oder der Sie alles anvertrauen können, ohne dass er oder sie Sie mit guten Ratschlägen erschlägt, dem oder sie alles erzählen können, wirklich alles: was Sie bedrückt, was Sie ängstigt, was Sie so maßlos freut, dass Sie es gerade mal nicht für sich behalten wollen oder können, dem oder der Sie sich bedingungslos anvertrauen können und der oder die Ihnen einfach nur zuhört und Sie in den Arm nimmt. Ich hoffe, Sie haben alle einen oder einen: einen besten Freund oder eine beste Freundin. So einen oder so eine wie der, von dem eben im Text aus dem Lukasevangelium die Rede war. Bei dem man klopfen kann, und es wird aufgetan. Den man bittet – und er gibt.
Ja, liebe Gemeinde, das ist so eine Sache mit dem Beten. Ich vermute mal, wir alle kennen Beten vor allem als Bitten. Und wahrscheinlich haben wir das alle schon mal getan, uns buchstäblich die Seele aus dem Leib gebetet. Nicht nachgelassen und immer und immer wieder Gott um seine Hilfe gebeten, ihm in den Ohren gelegen und ständig an seine Tür geklopft, ihn angefleht, dass er uns hört und die Dinge zum Guten wendet. In dem einen Moment haben wir gestammelt und im nächsten schönste Formulierungen gesucht, wir haben zu bekannten Formeln gegriffen und alle möglichen neuen Wendungen probiert. Wir haben die Hände gefaltet, und wir haben sie zum Himmel gehoben, wir haben uns hingekniet, und vielleicht haben wir sogar im Staub gelegen. Wir waren ganz bei uns und wir waren außer uns, wir haben geflüstert und wir haben geschrien, wir saßen in der Kirche und hockten im stillen Kämmerlein. Wir haben gebetet und gebetet und gebetet und gedacht und gehofft und gefleht, wir müssten nur genug beten, dann würde schon alles gut.
Manchmal gelingt es sogar. Aber oft gelingt es nicht. Dann wendet sich nicht alles so, wie wir es uns gewünscht haben. Dann klappt es nicht mit der großen Liebe, die Prüfung wird vergeigt, die Firma muss doch Insolvenz anmelden, das Unheil wird nicht abgewendet, der geliebte Mensch stirbt. Alles Hoffen, alles Beten – umsonst. Ja, das ist eine Sache mit dem Beten.
Auch im Predigttext für den heutigen Sonntag geht es – natürlich – um das Beten, und der Text schließt an an eine der bekanntesten Erzählungen der Bibel. Es ist die Erzählung vom goldenen Kalb. Mose, den Gott ausersehen hat, das Volk Israel nach der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei durch die Wüste in das gelobte Land zu führen, steigt auf den Berg Sinai, wo der Herr mit ihm redet. Die Erzählung will es, dass Mose dort vom Herrn vielerlei Gebote und Vorschriften erhält, die das Zusammenleben der Menschen ebenso regeln wie äußere Elemente der Gottesverehrung. Die Zehn Gebote gehören genauso dazu wie Vorschriften über die Bundeslade, die Stiftshütte oder auch so etwas wie die Priesterkleidung. Mose bleibt lange auf dem Berg, denn es sind viele Gebote und viele Vorschriften. Das dauert. So lang, so erfahren wir weiter, dass das Volk sich von ihm verlassen wähnt und denkt, er kommt vielleicht nie mehr wieder. Soll ja schon mal vorkommen, dass jemand auf einen Berg steigt und nicht wieder herunterkommt. Das Volk, ohnehin schon etwas ermattet von den vielen Tagen der Wanderung, wird unruhig. Es weiß ja nicht, ob das mit diesem Gott wirklich alles so stimmt und ob Mose tatsächlich ein geeigneter Anführer ist, der sie in die Freiheit führen wird. Kann man den beiden trauen? Sind sie wirklich das, was man sich von ihnen erhofft? Wartet am Ende wirklich das gelobte Land? Wird man je ankommen? Und dann kommt also dieser Mose nicht wieder. 40 Tage nicht und 40 Nächte nicht. Die Nervosität im Lager steigt. Und was man in jeder Krise beobachten kann, geschieht auch hier: Unruhe, Unsicherheit und Ungewissheit bereiten den Boden für Aberglauben und für die Bereitschaft, sich seine Götter selbst zu machen und lieber auf das zu vertrauen, was man selbst gemacht hat, als auf eine alles in allem doch recht unsichtbare Größe. Alle goldenen Ohrringe werden gesammelt, sie werden eingeschmolzen, und aus dem Gold wird eine Statue gegossen. Ein Kalb. Und für dieses Kalb, für diesen Götzen, für diesen Gott, den man sich selbst gemacht hat, wird ein Fest veranstaltet, es wird getrunken und gegessen und gelacht und gesungen. Und es wird getanzt.
Das ist die Geschichte, die wir alle kennen und die dem Predigttext für heute vorangeht. Und jetzt, in diesem Predigttext, da wird es wirklich spannend. Da heißt es im 32. Kapitel des Buches Exodus:
„7Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. 8Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben. 9Und der Herr sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. 10Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen.
11Mose wollte den Herrn, seinen Gott, besänftigen und sprach: Ach, Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? 12Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. 13Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. 14Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.“
Mose, so macht es den Eindruck, versteht das Volk Israel besser als Gott. Er ist ein Mensch wie sie und weiß, was das heißt, 40 Tage und Nächte zu warten und nicht zu wissen, wie es weitergeht. Er weiß, wie das ist, wenn Unsicherheit und Angst sich Platz greifen und Gerüchte die Runde machen. Und er kann sich auch vorstellen, wie viel einfacher es ist, etwas als Gott zu verehren, was man sieht, als etwas, von dem man nicht mit Beweiskraft sagen kann, dass es das wirklich gibt, dass das existiert. Und so sieht er natürlich genau wie sein Gott, was dieses Volk da gerade angerichtet hat, indem es sich einen Götzen aus Gold gebastelt hat und nun mit Gesang und Gebet und Tanz verehrt; und wie erzürnt auch er darüber ist, erfahren wir ein paar Verse später, wenn er die Gesetzestafeln, die Gott ihm gegeben hat, mit den zehn Geboten darauf vor lauter Zorn zerbricht. Und doch bittet er seinen Gott darum, dass er das abtrünnige und halsstarrige Volk verschont, dass er nicht seinen Zorn über sie kommen lässt und diese sie wie ein gieriges Feuer verzehrt. Er legt sich bei seinem Gott für sein Volk ins Zeug – und das ist jetzt das eigentlich Spannende und Interessante und für uns das, was wir am heutigen Sonntag Rogate über das Beten, um das es ja nichts Leichtes ist, lernen können. Mose wirft sich nicht in den Staub, er rauft sich auch nicht die Haare und hebt offenbar auch nicht flehentlich die Hände in den Himmel. Er betet sich nicht buchstäblich die Seele aus dem Leib, damit sich doch noch alles zum Guten wendet. Nein, all das tut er nicht. Er scheint ganz ruhig zu seinem Gott zu sprechen, wie zu einem Freund auf Augenhöhe, und viele Worte muss er nicht machen, damit Gott von seinem Zorn ablässt. Mose braucht nicht viele Worte und keine großen Gesten, und er macht auch seinerseits keine Versprechungen oder legt Gelübde ab, er verspricht Gott nichts, was er tun will, wenn dieser tut, wie er es wünscht. All das, was wir vielleicht alle schon einmal gemacht haben – all das tut Mose nicht. Was aber tut er? Er erinnert sich. Und indem er sich erinnert, zeigt er seinem Gott, dass er etwas verstanden hat von dieser Liebe und dieser Treue und davon, was Gnade und Barmherzigkeit sind. Er erinnert sich und darin erinnert er seinen Gott daran, was dieser selbst verheißen hat, was dieser selbst seinem Volk zugesagt hat. Er erinnert Gott an seine Taten und an das, was er schon alles für dieses Volk getan hat, obwohl es auch vorher schon keinen Deut besser oder anders gewesen ist als jetzt. Er hat es aus Ägypten befreit und seine Allmacht bewiesen – soll er sich jetzt zum Gespött machen bei denen, die er auf diese eindrucksvolle Art und Weise in ihre Schranken gewiesen hat? Sollen die jetzt lästern oder sich auch nur wundern, dass er das Volk, dass er so kraftvoll befreit hat, nun vernichtet? Mose erinnert seinen Gott daran, dass es doch auch andere gegeben hat in diesem Volk Israel, die Väter, Abraham, Isaak und Jakob, denen er Zusagen gemacht und Großes in Aussicht gestellt hat, denen er sich zugesagt und denen er seine Treue geschworen hat. Soll und kann sich ein solcher Gott nun selbst der Lüge überführen und zurücknehmen, was er einst zugesagt hat? Soll er sich als der Treulose und Lügnerische erweisen, als die sich schon so viele andere erwiesen haben? Oder bleibt er seiner eigenen Verheißung treu und steht zu seinem Wort? Mose entschuldigt nicht das, was Israel da mit diesem goldenen Kalb angestellt hat. Er beschönigt nichts, er versucht nichts, mit einem Deckmantel zu übertünchen, er bettelt nicht um billige Gnade. Und er zeigt auch nicht auf das, was dieses Volk möglicherweise an guten Werken schon getan hat oder an Glauben und Gebeten und Verehrung vorzuweisen hat, er nimmt sein Volk nicht in Schutz und er verharmlost überhaupt gar nichts. Aber er erinnert Gott daran, was dieser selbst von sich offenbar gemacht hat. „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich bin, der ich sein werde“ – so hat sich Gott dereinst selbst dem Mose gegenüber genannt, das ist sein Name, das ist das, was sein Wesen ausmacht: Ich bin, der ich bin – das heißt: Du kannst Dich auf mich verlassen. Was ich einmal gesagt habe, was ich einmal zugesagt habe, was ich Dir einmal versprochen habe, den Bund, den ich einmal mit Dir geschlossen habe – das nehme ich nicht zurück, davon gehe ich nicht ab, davon lasse ich auch in den äußersten Fällen nicht. Ich bin, der ich bin. Mose erinnert seinen Gott: Du, Gott, hast gesagt, Du bist der Freund, der mir mitten in der Nacht die Tür öffnet. Willst Du sie jetzt wieder zuschlagen? Daran erinnert Mose sich und seinen Gott. Und das ist Gebet.
Ja, das ist so eine Sache mit dem Beten. Wie oft schon haben wir uns die Seele aus dem Leib gebetet. Aber genau das ist das Problem. Wir haben uns die Seele aus dem Leib gebetet. Wir sind nicht bei uns selbst geblieben. Vor allem aber sind wir nicht bei Gott geblieben. Wenn Jesus seine Jünger lehrt, was es um das Beten ist – wir haben es vorhin in der Lesung aus dem Lukasevangelium gehört –, dann erinnert und mahnt er sie genau daran. Er sagt nichts anderes als: Vertraut Gott, wie Ihr einem Freund vertrauen würde, bei dem Ihr mitten in der Nacht anklopft, wenn Ihr Hilfe braucht. Ist er ein Freund, dann wird er Euch natürlich öffnen und Euch zur Seite stehen. So ist Gott, wenn Ihr zu ihm betet. Es genügt das Anklopfen, dann öffnet er Euch, er lässt Euch nicht draußen im Regen stehen und er verweigert Euch nicht den Zutritt. Er ist offen für Euch, es ist offen für Euch. Ihr müsst nichts anderes tun als ihm zu vertrauen. Wenn Ihr aber daran zweifelt, dass er dieser Freund ist, dann könnt Ihr noch so viel und so laut und so richtig und so formvollendet beten, wie ihr wollt, dann könnt ihr noch so oft anklopfen – dann ist da keiner, der Euch aufmachen könnte. Dann habt Ihr Euch auch ein goldenes Kalb gemacht, Euch Euren eigenen Gott gebastelt, um den ihr nun laut schreiend herumtanzt. Beim Beten kommt es nicht auf das Richtig an oder auf das Formvollendete oder auf viele Worte oder große Gesten oder auf die Häufigkeit und die festgefügten Formeln. Beim Beten kommt es allein auf den Adressaten an. Nicht wer betet und wie gebetet wird, ist wichtig, sondern zu wem gebetet wird. Mit wem spreche ich, wenn es mir schlecht geht, wenn ich Sorge habe, aber auch, wenn ich etwas Schönes und Erfreuliches mitteilen will? An wen wende ich mich in der Not? Bei wem traue ich mich, mitten in der Nacht anzuklopfen und um Hilfe zu bitten? Zu wem habe ich solches Vertrauen, dass ich ihm alles, wirklich alles erzählen möchte?
Wenn ich das Gebet so in richtiger Weise verstehe, dann bete ich mir auch nicht mehr die Seele aus dem Leib, sondern dann betet meine Seele zu Gott. Dann mache ich nicht viele Worte, sondern dann vertraue ich auf das Wort dieses Gottes, das in Jesus Christus Fleisch geworden ist. Dann braucht es nicht viele Gesten, sondern dann ergreife ich die ausgestreckte Hand des Gottes, der gekreuzigt und auferweckt worden ist. Dann weiß ich, dass auch dann, wenn sich nicht alles zum Guten wendet, Gott mich auch durch das Schlimme und Traurige hindurch trägt. Denn der gute Freund oder die gute Freundin, die setzt mich bei sich auf Sofa und hört mir zu und nimmt mich in den Arm, auch wenn Sie das Geschehene nicht ändern kann. Gott will, dass wir zu ihm beten. Gott will, dass wir uns erinnern an das, was er uns zugesagt hat, und dass wir ihm dies sagen. Gott will, dass wir in unserem Reden mit ihm zeigen, dass wir uns erinnern, dass wir etwas begriffen und in unser Herz gelassen haben und uns danach ausrichten. So wird jedes Gebet, auch die Klage, auch die Bitte, auch das Bekenntnis der Schuld, zu einem Lob- und Dankgebet, denn es spricht Gott als den an, als der er angesprochen werden will: als der Gnädige, der Liebende, der Freund und Freundliche, der Zugewandte, der, der sich selbst mit allem, was er hat und ist, uns gibt.
Liebe Gemeinde, ich hoffe, Sie haben alle einen oder eine, zu dem Sie mitten in der Nacht kommen können, der Ihnen zuhört und mit ihnen alles teilt. Ich hoffe, Sie haben alle einen besten Freund oder eine beste Freundin. Vor allem aber hoffe ich, dass Sie wissen, dass Gott, unser Herr, ein solcher Freund ist, zu dem wir mit allem kommen können, was wir sind, so wie wir sind, mitten in der Nacht und jederzeit. Dieses Wissen – das ist Gebet. Sich so zu Gott zu halten – das ist Gebet. Sich so Gott hinzuhalten – das ist Gebet. Gebet, das ist nicht zuerst Reden oder Tun. Gebet ist eine Haltung. Mose zeigt es in seiner Fürbitte für sein Volk seinem Gott gegenüber. Jesus Christus sagt es seinen Jüngern. Wir dürfen es hören und daraus leben und in Brot und Wein neu erfahren und darin vergewissern lassen, dass wenn wir uns Gott hinhalten, er uns niemals fallen lässt. Gebet ist eine Haltung. Lasst uns in diesem Sinne Haltung bewahren. Rogate!
Amen.