Holt Luther vom Sockel!

Wieso Reformation? Was trieb die großen Gestalten der Reformation vor 500 Jahren an, sich gegen Widerstände auf neue Ideen zu berufen? Einen Blick auf die Motivation der Reformatoren wirft Prof. Dr. Athina Lexutt, Giessener Kirchengeschichtslehrerin und ausgewiesene Luther-Expertin.

Ein Mann schlägt ein Blatt Papier an eine Kirchentür. Ein Mann steht vor den Regierenden des Landes, und gibt, obwohl er die Todesstrafe vor Augen hat, nicht nach: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, ruft er den Versammelten zu. Stiernackig, groß gewachsen und mit entschlossenem Blick, in der Hand eine Bibel, ein Mann wie ein Denkmal, so wird er einmal dargestellt werden.
Das ist unsere Vorstellung von Martin Luther, das ist unsere Vorstellung von Reformation: der Kampf eines Titanen gegen Kaiser und Papst, das Aufbegehren gegen Hierarchien und Ausbeutung, die Revolution eines Einzelnen gegen die Mächte der Zeit. Ein Bild, durch Jahrhunderte hindurch geprägt und die Umstände der jeweils eigenen Gegenwart in die ein oder andere Richtung noch weiter ausgemalt. Doch ist es genau das: eine Vorstellung, ein Bild. Und letztlich: viel Verzerrung.

Luther hatte Vorläufer
Will man das Reformationszeitalter recht verstehen, muss man bedenken, dass das, was Luther auslöste, bereits durch etliche reformerische Bewegungen vorbereitet war. Schon im 15. Jahrhundert regte sich vielerorts Kritik am päpstlichen Autoritätsanspruch, mystische Richtungen und die Demutsbewegung der „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ rückten das Gewissen des Einzelnen in den Mittelpunkt, der Humanismus förderte die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen und in der römischen Kurie selbst wurden Stimmen laut, welche eine umfassende Reform der Kirche forderten. Die Welt befand sich in einem Umbruch, die alten Autoritäten Kaisertum und Papsttum waren angeschlagen, Fragen wurden laut, die auf Antworten warteten. Luther und die anderen Reformatoren konnten an einen breiten Reformgeist anknüpfen und trafen von dort aus auf viele offene Ohren.

Neuw ar die theologische Tiefe
Was ihre Reformen jedoch von allen anderen unterschied, war die theologische Tiefe, war die völlig neue Lesart biblischer Texte, war die Entdeckung eines Gottes- und Menschenbilds, das dann alle bisherigen Reformansätze radikalisierte, das heißt: an die wesentliche Wurzel führte. Luther hat sich nicht deshalb mit der Schrift so intensiv auseinandergesetzt, weil ihn die Römische Kirche und der Papst ärgerten, sondern weil er eine Antwort auf die Frage suchte, wie er sein gequältes Gewissen beruhigen, wie er Trost finden und wie er zu einer innerlichen Freiheit finden konnte. Zwingli in Zürich hat sich nicht an den Obrigkeiten an sich gestoßen, sondern darauf gepocht, dass es keine andere Autorität in Fragen der christlichen Lehre und des christlichen Lebens geben darf als die Schrift. Calvin in Genf hat nicht für Zucht und Ordnung sorgen wollen, sondern erkannt, dass die Erfahrung der umsonst geschenkten Gnade ein Leben in Dankbarkeit nach sich zieht, das man an bestimmten äußerlichen Momenten erkennen kann.

Allen Reformatoren gemeinsam ist, dass sie nicht die Welt revolutionieren und Machtstrukturen aufbrechen wollten, sondern dass sie eine Theologie lehren und leben wollten, die aus der Schrift erkannte, dass Gott sich dem Menschen ohne jede Vorleistung gnädig zuwendet, und die daraus ihre seelsorgerliche Kraft schöpfte, dies den Menschen von der Kanzel, in den Schulen und im Alltag als kräftigende Wegzehrung mitzugeben. Das hat dann freilich auch politische und kirchenstrukturelle Konsequenzen nach sich gezogen. Sie sind dazu mitunter unterschiedliche Wege gegangen, was dazu führt, dass wir historisch korrekt eigentlich nicht von der Reformation, sondern von den Reformationen sprechen müssen.

Holt Luther vom Sockel!
Das Reformatorische indes, was sie allesamt bewegt hat, ist etwas, was auch 500 Jahre später noch eine gestalterische Kraft hat, die es wiederzuentdecken gilt. Dazu müssen wir uns von den Heldenbildern der Vergangenheit lösen, Luther vom Sockel holen und uns darauf besinnen, dass die Reformatoren nichts anderes im Blick hatten, als dem Menschen dazu zu verhelfen, sein Leben als von Gott geschenktes zu verstehen und sich daher auch in allen Widrigkeiten, allen Ängsten und Nöten, von seiner Zusage getragen zu wissen. Dieser Kern, der ihnen selbst im 16. Jahrhundert den Mut verlieh, eignen Anfechtungen und Anfeindungen von außen zu widerstehen, hält den Anfragen der Moderne stand und ermöglicht ein christliches Leben, das politische, gesellschaftliche und kulturelle Prägekraft entfalten kann.

Athina Lexutt