Liebet Eure Attentäter

Ein Wohnzimmer irgendwo in Deutschland. Drei Männer sitzen um einen Tisch, auf dem buchstäblich eine wichtige Entscheidung liegt:
Da sind ein aufgeklappter Laptop – der Bildschirm zeigt eine Facebook-Meldung – und zwei, drei Verlängerungskabel. Die Namen der Männer kennen wir nicht.
Ich nenne sie Salih, das ist „der Fromme“, Hassim, im Arabischen: „der Großzügige“ und Khan, das meint: „Anführer“.

Eine hitzige Debatte
Die drei Männer sind mitten in einer hitzigen Debatte. Wir hören mal rein!
„Wir wissen ja gar nicht, was er vorhat“ gibt Hassim gerade zu bedenken. „Wir kennen ihn kaum.“
„Trotzdem: Das können wir nicht machen“, sagt Salih leise, aber eindringlich. „Wir haben ihn hier freiwillig aufgenommen. Er ist unser Gast.“
Khan ist ein stämmiger, untersetzter Typ. Als er sich einmischt, wird es lauter: „Wir wissen, was er vorhat. Und mal ehrlich? Ich fände es nicht falsch, wenn er das durchzieht. Das wäre ein Denkzettel! Ein Signal!“
„Psst! Nicht so laut“, Hassim verzieht ängstlich das Gesicht. „Er schläft gleich nebenan.“
„Wie hast Du das gemeint, Khan?“ hakt Salih aber nach.
„Wir wollten Gerechtigkeit“, stößt Khan hervor. In ihm brodelt es. „Wir wollten Recht und Ordnung in unserem Land. Aber keiner hat geholfen. Nur jetzt, jetzt zerbomben sie alles. Und wir mussten fliehen. Wer wirft denn Bomben auf Syrien? Der ganze Westen – und ja, deutsche Soldaten sind mit dabei. Und die Bomben fallen auf Krankenhäuser, auf Hochzeiten. Auf Kinder, Frauen und Kranke. In Afghanistan habt Ihr’s doch gesehen. Was Jaber vorhat, wäre Wiedergutmachung! Vergeltung!“
„Das ist Propaganda“, wirft Salih ein.
„Nein, es ist wahr“, ereifert sich Khan. „Unsere Familien, unsere Freunde sterben dort. Sie werden Opfer der imperialistischen Politik des Westens!“
„Was Jaber vorhat, würde Menschen ihr Leben kosten!“ widerspricht Hassim.
Khan stockt da nur einen kurzen Moment: „In einem Land, in dem Syrer durch die Straßen gejagt werden – nur weil sie Muslime sind und fremd“, entgegnet er dann. „Christen hassen Muslime! Nicht mal ein Minarett wollen sie uns bauen lassen.“
„Gerade in Deutschland sind viele willkommen geheißen worden“, versucht es Hassim noch einmal.
„Hassim, fahr mal an einem Montag nach Dresden. Da begegnest Du den Menschen, um die es Jaber geht. Solche Menschen müssen wir zeigen, dass wir uns wehren können.“
„Vergeltung ist im Sinne Allahs“, wirft Salih da ein. „Wenn einer zu Tode kommt, ist Vergeltung unsere Pflicht vor Gott. So steht es in Sure 2,178f.“
„Und es steht auch in der Bibel der Christen“, gesteht Hassim ein. „Der Prophet zitiert es in Sure 5,45: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn.“
„Dann sind wir uns einig“, fasst Khan zusammen. „Wir lassen ihn laufen. Soll er tun, was er für richtig hält!“
Die beiden anderen nicken stumm. Die Verlängerungskabel, mit denen sie den gesuchten Attentäter fesseln wollten, packen sie weg.

Sich ausmalen, wie’s weiterging
Wie es dann weiterging, kann man sich grob ausmalen: Am Mittwochabend berichtet die Tagesschau, dass es im Berliner Flughafen zu einem Sprengstoffanschlag kam. Ein syrischer Flüchtling, der 22jährige Jaber al-Bakr hat sich in die Luft gesprengt und 50 Menschen mit in den Tod gerissen. Die Stimmung im Land ist aufgeheizt.
Am Donnerstag kam es in mehreren Städten zu Protestkundgebungen, die in Gewalt umschlugen.
Am Freitag brannte in Duisburg eine Moschee.
Am Samstag jagte ein Mob zwei Muslime durch Leipzig. Einer stürzte in eine Schaufensterscheibe und verblutete.
Und am Sonntag … – wie wäre es heute weitergegangen?
Was wäre heute passiert, wenn das Gespräch heute vor einer Woche in einem Wohnzimmer in Leipzig so verlaufen wäre, wie ich es mir ausgemalt habe?
Die drei syrischen Männer hätten den gesuchten Attentäter Jaber al-Bakr nicht gefesselt der Polizei übergeben, weil sie wie er an die Macht der Vergeltung geglaubt hätten.

Der Glaube an die Vergeltung – das ist es, womit sich Jesus im Evangelium des heutigen Sonntags auseinandersetzt. In der Bergpredigt zitiert er die alten Gebote aus dem Ersten Testament – und setzt ihnen eigene Interpretationen entgegen.
Wir hören aus der Vergangenheit: Ein Auge für ein Auge und ein Zahn für einen Zahn. (Mt 5,38)
Und Jesus setzt dem entgegen: Wehrt Euch nicht gegen Menschen, die Euch Böses antun! Sondern: Wenn jemand Dich schlägt auf die rechte Backe – halt ihm auch die andere Backe hin! (Mt 5,39)
Wir hören das alte Gebot: Liebe Deinen Nächsten und hasse Deinen Feind!
Und Jesus erwidert: Liebet Eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! Nur wo werdet ihr vollkommen.

Jesus provoziert – und mutet uns was zu!
Das sind Provokationen Jesu, die man nicht kleinreden kann – und darf. Denn die Jesus zuhören, die kennen diesen Satz: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ ist das Prinzip der gemäßigten Rache. Die Logik der kontrollierten Vergeltung.
Man muss sich klarmachen: In Zeiten, da es keine Krankenversicherung und keine Rentenkasse gibt, ist der Verlust eines Zahns, eines Auges oder eines anderen Körperteils keine Lappalie. Wenn das den Ernährer einer Familie trifft, steht das Überleben der ganzen Familie auf dem Spiel. Und wenn jemand daran schuld hatte – dann muss dieser Jemand dafür büßen.
Da kommt dieser Rechtssatz her. So kennen die, die Jesus zuhören, diesen Satz.
Wobei man dazu sagen muss: Als Rechtsvorschrift sollte dieser Grundsatz einmal die Rachsucht der Menschen begrenzen. Wenn jemand Dir einen Zahn ausschlägt, soll er dafür nur mit einem Zahn büßen. Nicht mehr! Und von Fall zu Fall darf er sich mit einer Geldzahlung an das Opfer auslösen. Dieser Rechtssatz ist eine Eingrenzung – und wird auch nur zwei Mal im Alten Testament so formuliert.

Jesus hat aber erkannt: Dieser Satz führt nicht zum Frieden. Wer so sein Recht in die Hand nimmt, verfällt in Freund-Feind-Denken. Die Welt wird Schwarz-weiß. Und dann findet sich immer ein Grund, um Rache zu tun.
So hat der Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ das Potential, die Rachsucht noch zu fördern, weil er Vergeltung für rechtens erklärt. Dem nachzugeben, führt in eine Gewaltspirale, weil es dann legitim ist, dass ein Wort das andere gibt.
Und dann steigert sich die Gewalt der hin- und her ausgeteilten Schläge doch. Weil ein Opfer die Gewalt, die ihm angetan wird, immer stärker erlebt als der Täter. Und wenn der, der sich als Opfer erlebt, dann Vergeltung am Täter suchen darf, wird er das in vielen Fällen mehr tun und stärker tun als zuvor: Aus Schimpfworten wird eine Beleidigung. Der verbale Schlagabtausch eskaliert in einer Backpfeife. Bei der Schlägerei zückt der, der in die Ecke getrieben wird, ein Messer.

Frag nicht: Wer ist mein Feind? Sondern …
Jesus will diese Spirale von Rücksichtslosigkeit und Gewalt durchbrechen – und schon um zu provozieren, formuliert er ein Kontrastprogramm. Zunächst einmal sind das Widerworte zum Alltagsprogramm der Welt, die aufhorchen lassen sollen. Aber: So geht das nicht in der Welt! – Oder doch?
Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen. Außer man heißt Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King, Michail Gorbatschow, Shimon Peres, Barrack Obama – „Yes, we can“; Angela Merkel – „Wir schaffen das“?
Und dann sind Jesu Worte doch mehr als nur Provokation. Sie sind ernst gemeint. Sie sind eine Zumutung.

Jetzt werden Sie vielleicht sagen: Ich bin ein guter Mensch. Wenn ich gefragt würde: „Wer ist Dein Feind?“ – müsste ich wohl ehrlich antworten: „Ich habe keine Feinde.“
Tun Sie mir den Gefallen und drehen Sie die Frage einmal um: „Für wen bin ich der Feind? Wer erlebt mich als feindlich gesonnen – und abweisend?“
Und dann geht es Ihnen vielleicht so wie mir – die Liste wird erschreckend lang und länger: Die Obdachlosen, an denen ich in der Kölner Fußgängerzone vorbeirenne? Der Nachbar, mit dem ich wegen seines Gartenzwergs im Clinch liege? Die Arbeitskollegin, die ich ausgrenze, weil sie mir unsympathisch ist?
Aber auch: Die Hungernden in Afrika, die von der Handels-politik europäischer Regierungen arm gemacht werden? Trauernde, die einen Angehörigen verloren haben durch eine Schusswaffe aus deutscher Produktion?

Geh raus aus der Komfortzone
Und über all diese Menschen sagt Jesus im Klartext:
Geh raus der Komfortzone, in der Du Dich eingerichtet hast!
Immer wieder – geh hin zu den Menschen, die Dir Angst machen
– und zu denen, die Angst vor Dir haben.
Geh zu hin den Menschen, die Dich verletzt haben.
Und zu denen, die nachts schlecht von Dir träumen.
Bete für die! Das heißt auch: Überlege, was sie von Gott erbitten würden.
Was diese Menschen, mit denen Du so gar keinen Vertrag hast – was die wollen und brauchen.
Und komm ins Nachdenken darüber, ob Du ihnen ein klein bißchen davon geben kannst.
Das wäre wunderbar. Das wäre ein erster Schritt dahin, wie Gott sich die Welt erträumt.
Dass die Welt vollkommen wird: Das Reich Gottes.

Ein Schlussgedanke: Wenn Jesus so radikal formuliert, was hätte das heute vor einer Woche in diesem Leipziger Wohnzimmer bedeutet? Zunächst einmal wohl nichts anderes als das, was die drei Männer gemacht haben: Den Gesuchten zu fesseln und der Polizei zu übergeben. Sie haben sich mit der Vergeltungslogik des Jaber al-Bakr nicht gemein gemacht. Aber warum?
Einer von ihnen wird auf tagesschau.de so zitiert: „Ich war total wütend auf ihn. So etwas akzeptiere ich nicht – gerade hier in Deutschland, dem Land, das uns die Türen geöffnet hat.“ (Zitat tagesschau.de)
Immer wieder höre ich das Argument, dass es uns in Gefahr gebracht habe, so viele Flüchtlinge unkontrolliert ins Land zu lassen. Bis heute gab es in Deutschland keinen erfolgreichen größeren islamistischer Anschlag. Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, ob es auch die Willkommenskultur von 2015 ist, die uns vor dem schützt, was in Frankreich schon mehrfach passiert ist? Weil diese Fremden uns in Schutz nehmen?

Ich werde für ihn beten
Aber Jesu Worte muten uns noch mehr zu: Nämlich verstehen zu wollen, warum ein Mann wie Jabr al-Bakr uns so feindlich gesonnen ist, dass er uns ans Leben will. Und für ihn beten. Gerade auch jetzt, da er Selbstmord begangen hat. Auch das ist kein Grund, in Selbstgerechtigkeit zu schwelgen – nach dem Motto: Der böse Attentäter hat sich selbst gerichtet. Gut so! Geschieht ihm recht!
Nein! Es sollte traurig machen, dass ein Mensch am Ende so weit gekommen ist. Ich werde für ihn beten! Amen.

Diese Predigt hielt Pfarrer Dr. Stefan Heinemann in den Sonntagsgottesdiensten in der Hennefer Christuskirche am 16. Oktober 2016, 21. Sonntag nach Trinitatis.
Predigttext war ein Ausschnitt aus der Bergpredigt, Matthäus 5,38-39. Bildquelle: Medienservice Sachsen