Jesaja liebt Trauben

Liebe Schwestern und Brüder,
Stellen Sie sich Trauben vor. Weintrauben wie man sie im Spätsommer an jeder Straßenecke kaufen kann. Jesaja liebt Trauben: Sie in den Mund stecken, sie zwischen den Zähnen zerplatzen lassen – und dann breitet sich eine spritzige, belebende Feuchtigkeit im Mund aus.
Jesaja liebt Trauben. An einem staubtrockenen Spätsommertag wie heute in Jerusalem sind sie genau das richtige. Jesaja hat sich diesen Nachmittag freigenommen. Gerade eben hat er sich noch eine Handvoll Trauben gekauft.
Der Verkäufer erinnerte ihn an seinen Großvater, findet Jesaja. Der verkaufte an solchen Sommertagen auch Trauben in Jerusalem. Jesajas Großvater war Weinbergbesitzer.
Von ihm hat er gelernt, wie viel Liebe und Aufmerksamkeit in diesen Früchten steckt.
Weinbau ist Knochenarbeit.

Zuerst suchte Jesajas Großvater den richtigen Ort: Ein Südhang möglichst mit dem richtigen Untergrund aber. Der Boden muss die Feuchtigkeit halten können, aber die Sonnenwärme reflektieren.
Und dann begann die Arbeit, bei der Jesaja als Junge helfen musste: Jede gepflanzt Weinrebe erhielt einen eigenen Pfahl. Mit Muskelkraft wurden sie in den harten, trockenen Boden getrieben.
Und dann – brauchten sie Geduld. Viel Geduld! Denn in den ersten Jahren trägt eine Weinrebe kaum Frucht. All ihre Kraft steckt sie ins Wachstum. Die Wurzeln treiben bis zu 15 Meter tief ins Erdreich hinein.
Wenn ein Rebstock gut angewachsen ist, dann trägt er die meisten Früchte im Alter von 15-20 Jahren – die besten, die leckersten Früchte eher in den Jahren noch danach. Erst dann – nach 15, 20 Jahren – lässt sich abschätzen, ob es ein guter Weinberg ist. Oder einer, der die Arbeit nicht lohnt.
Auch das ist Jesajas Großvater einmal passiert. Die Entscheidung, den Weinberg aufzugeben, hatte sich der alte Patriarch nicht leicht gemacht. Denn in diesem Weinberg steckte unendlich viel Arbeit der ganzen Familie drin. Die Rebstöcke waren von Hand beschnitten worden – jeder wenigstens drei Mal im Jahr. Jesaja erinnert sich noch an die Schwielen an den Händen seines Großvaters.
Und an die Frustration und die Wut auch, die sich in den Augen seines Großvaters spiegelte, als dieser sagte: Diesen Weinberg geben wir auf! Das war ein Fehler. Selbst nach Jahren trägt er keine Frucht!
Wütend war der Großvater gewesen. Auf wen eigentlich? Auf den Weinberg? Den Boden, das Wetter? Sich selbst, wegen seiner Fehleinschätzung?
Zum Glück war Jesajas Großvater dieser Fehler nur einmal unterlaufen. Andere Familien hatten mehr Pech. Ein Nachbar war in der Schuldsklaverei geendet. Frau und Kinder wurden an die Gläubiger verkauft,
um die Schulden der Familie abzutragen. Die Lebenshoffnungen eines ganzen Familien-Clans zerstört wegen einem Weinberg, der keine Frucht bringt.

Jesaja schlendert durch Jerusalem
Jesaja schüttelt den Kopf. Und trotzdem – oder umso mehr mag er die Trauben. Vielleicht auch weil er weiß, wie viel Liebe, Kraft und Aufmerksamkeit da drin stecken.
Die eine Hand noch mit Trauben gefüllt, schlendert Jesaja los. Er hat kein besonderes Ziel. Er spaziert durch die Gassen Jerusalems. Hier und da bleibt er stehen. Beobachtet Menschen, unterhält sich mit Bekannten.
Sein Blick fällt auf die Mietskasernen am Stadtrand. Als Jesaja geboren wurde, gab es die noch nicht. Aber als vor einigen Jahren die Assyrer das Nordreich eroberten, war die Stadt auf einen Schlag randvoll mit Menschen. Auf zwei Einwohner Jerusalems kam ein Kriegsflüchtling.
Die Stadtmauer wurde erweitert, jede noch so kleine Baulücke geschlossen. Den Reibach machten die Hausbesitzer. Bis heute hocken die Flüchtlinge in diesen Häusern aufeinander, zahlen horrende Mietpreise. Die Hausbesitzer streichen viel Geld ein, das sie ausgeben für Wein, Weib und Gesang. Regelmäßiges Stadtgespräch in Jerusalem sind die Gelage der Immobilienhaie.

„Hoppla, pass doch auf“ – ein Kind ist Jesaja über die Füße gelaufen. Es kam unerwartet aus einer der Mietskasernen geschossen. Jesaja bekommt es am Arm zu packen. Er erschrickt: Wie dünn der Arm ist, das kann er durch den Stoff fühlen.
Das Kind dreht sich zu ihm um. Jesajas Blick fällt auf den Haarschopf des Kindes. Der ist nicht schwarz wie der aller Stadtbewohner, sondern geht ins Gelbliche. Zeichen der Mangelernährung, der Armut. „Möchten Sie Trauben?“ fragt ihn das Mädchen mit einem offenen, freundlichen Lächeln. Sie heißt Mirjam und hält ihm Weintrauben entgegen, die nicht mehr gut aussehen: Schrumpelig und eingefallen.
Nur aus Mitleid kauft Jesaja dem Mädchen eine kleine Handvoll ab. „Warum verkaufst Du Trauben?“, fragt er sie. Das Mädchen antwortet – Jesaja hört den Akzent von Tekoa heraus, einer Siedlung 20 km südlich von Jerusalem. „Einer muss doch das Geld verdienen“, gibt sie keck zurück. „Und das machst Du?“ – „Vater ist tot. Die Felder hat ein Richter unserem Cousin zugesprochen. Der Cousin hatte dem Richter Geld gegeben, damit er so entscheidet. Da sind wir hierher gezogen. Mutter ist heute morgen rausgegangen vor die Stadt. Sie hält Nachlese auf den Feldern, die jetzt abgeerntet werden. Und ich verkaufe Trauben. Wollen Sie noch welche? Essen Sie doch!“
Jesaja schiebt sich eine Traube in den Mund. Sie schmecken bitter, die Trauben, die ihm die Kleine gegeben hat. Aber vor dem Mädchen lässt er sich nichts anmerken. Lächelnd bedankt er sich bei ihr und verabschiedet sich.

Der Maßstab Gottes – sind die Ärmsten
„Witwen und Waisen – und Fremdlinge“ schießt es Jesaja durch den Kopf, als er weitergeht.
Fremdlinge, wie die in den Mietskasernen, Waisen wie Mirjam, Witwen wie ihre Mutter.
Witwen, Waisen und Fremdlinge. Das hat er als Junge von Nathanael, seinem Gesetzeslehrer gelernt – sie sind der Maßstab Gottes: Wie eine Gesellschaft mit ihren Ärmsten umgeht, zeigt, wie nah sie Gott ist.
„Dieses Land ist uns von Gott gegeben“, hat ihm Nathanael eingebleut. „Es war sein Geschenk an uns, das Volk Israel. Als unsere Vorväter aus Ägypten kamen, aus der Wüste, da brachte er sie ins gelobte Land. Dieses Land.“
Und dann hatte Nathanael aus einer Buchrolle zitiert, die sehr kostbar aussah: „Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, starke und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung annimmt, der der Waise und der Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt. Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Den HERRN, deinen Gott, sollst du fürchten, ihm sollst du dienen, an ihm und seinen Geboten festhalten.“ (Dtn 10,17-20)
Das ist der Maßstab, denkt Jesaja – und was haben wir daraus gemacht: aus dem gelobten Land, dem Gottesgeschenk?

Dieser Gedanke lässt Jesaja an diesem Nachmittag nicht mehr los. Im grellen Kontrast erscheint ihm plötzlich die Straßenszene vor seinen Augen: Die Schuldsklaven, die man an ihrer ärmlichen Kleidung erkennt – da sind noch mehr Kinder mit gelblichen Haaren  – eine Witwe, die aus ihrem Haus getrieben wird. Sie hat Tränen in den Augen.
Was haben wir aus diesem gelobten Land gemacht? Dieser Gedanke verfolgt Jesaja bis nach Hause, bis in die Nacht, bis in seine Träume. Er schläft unruhig. Er schläft schlecht.
Als Jesaja am nächsten Morgen aufwacht, weiß er, was er tun muss. Es ist Schabbat – der Feiertag, an dem Gott verboten hat, zu arbeiten. Jesaja zieht sich an. Er wählt seine Kleider sorgfältig aus. Dann macht er sich auf den Weg zum Tempel.
Dort kennen sie ihn schon. Jesaja ist häufiger da. Häufiger noch als andere. Und immer wieder einmal spricht er zu den Menschen, die zum Tempel kommen.
Wenn sein Alltagsleben seinen Glauben berührt, wenn er das tiefe Gefühl hat: Das ist es, was Gott will – und das müssen die Menschen wissen.
Manche Leute in Jerusalem nennen ihn deswegen schon: Jesaja, der Gottesversteher – Jesaja, der Prophet.

Jesaja singt vom unfruchtbaren Weinberg
Auch an diesem Morgen redet Jesaja vor den Leuten. Er hat seine Laute mitgebracht. Zwischendurch schlägt er einige Akkorde an.
Es ist noch nicht zu heiß am Tag. Die Menschen haben Zeit. Sie bleiben stehen. Jesaja sagt:
„1 Erlaubt mir, ihr Leute, dass ich singe von meinem Freund.
Ich singe das Lied meines lieben Freundes von seinem Weinberg.
Denn mein Freund hatte einen Weinberg, in einer sonnigen Steillage, überaus fruchtbar.

2 Und er grub ihn um und befreite ihn von Steinen,
und er pflanzte darin edle Reben.
In seiner Mitte baute er einen Turm und grub eine Kelter
und hoffte darauf, dass er gute Trauben brächte.
Doch er brachte stinkende Fäulnis hervor.
3 Und nun, ihr Bewohner von Jerusalem und Männer aus Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberg.
4 Was bliebe noch zu tun für meinen Weinberg,
das ich nicht getan hätte?
Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht,
während ich darauf wartete, dass er gute brächte?“
Einige der Zuhörer schauen amüsiert. Andere lächeln.Ja, das kennen sie. Was soll man mit so einem Weinberg schon machen? – Jesaja aber schaut seinen Zuhörern direkt in die Augen und erzählt weiter:
„5 Und nun erlaubt mir, dass ich euch erzähle,
was ich mit meinem Weinberg machen werde:
Ich werde seine Hecke ausreißen, dann soll er kahl gefressen werden;
Ich werde seinen Zaun einreißen, dann soll er zertreten werden.

6 Ich will ihn wüst liegen lassen,
er soll nicht geschneitelt und nicht behackt werden,
sondern Dornen und Disteln werden darauf wachsen.
Und was die Wolken betrifft, so werde ich Befehl geben, keinen Regen mehr auf ihn fallen zu lassen.“
Da werden einige Zuhörer stutzig: Den Wolken und dem Regen befehlen? Wer ist dieser Mann?
Aber Jesaja ist jetzt vom heiligen Zorn ergriffen: Merkt ihr’s, ihr Leute von Jerusalem?
„7 Der Weinberg des HERRN Zebaoth – das ist das Haus Israel, und die Männer aus Juda sind das, was er aus Leidenschaft gepflanzt hat. Und Gott, der Herr hoffte in seinem Weinberg auf Rechtsspruch, doch seht: Rechtsbruch! Und er hoffte auf Gerechtigkeit unter euch, doch seht selbst: Schlechtigkeit!“

Jesaja schweigt. Die Menschen um ihn herum auch. Einige betrachten ihn feindselig, viele schauen einfach nur erschrocken.
Jesaja ist hochgeachtet in Jerusalem – auch als Prophet. Was hat es zu sagen, dass ein Prophet so schlecht über sein eigenes Volk spricht – im Namen der frustrierten, enttäuschten Wut Gottes? Was ist das für ein schlechtes Zeichen?!
Jesaja nimmt seine Sachen. Er geht nach Hause. Er hat ausgerichtet, was Gott ihm aufgetragen hatte.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch des Propheten Jesaja, Jesaja 5,1-7.
In der Lutherbibel trägt er die Überschrift „Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg“. Das, was ich Jesaja im Tempel habe singen und sagen lassen, steht dort eins zu eins.
Alles andere ist meine Vermutung: Was hat den Propheten veranlasst, so über sein Volk zu urteilen? Was ihn bewegt, solche Worte zu finden?
Jesaja und andere sozialkritische Propheten seiner Zeit haben sehr deutlich gesagt, was Recht und Gerechtigkeit vor Gott sind. Die große Frage ist: Was sind sie heute?
Bildungsgerechtigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich, Willkommenskultur, Antikorruptionsindex und Lobbyregister, …
Auch wir sind Gottes Weinberg – als Nation, als Kirche, als Individuen. Von ihm angelegt, mit Liebe gehegt und gepflegt.
Reich beschenkt mit Ressourcen und Konsumgütern, Frieden im Land und Sonne im Leben.
Was machen wir daraus – aus diesem Geschenk Gottes? Amen.

Diese Predigt hielt Pfarrer Dr. Stefan Heinemann am Sonntag Reminiscere, 25. Februar 2018 in der Hennefer Christuskirche.