Als im Presbyterium die Fetzen flogen …

Christliche Gemeindevorstände gibt es seit 2.000 Jahren. An ihrem Anfang standen Zank und Streit. Aber in der Kirchengeschichte waren Presbyterien die Orte, an denen sich Gemeinden immer wieder neu erfinden konnten. Sie wurden zu Experimentierorten der Gemeindebeteiligung, die auf die Demokratieentwicklung außerhalb der Kirchen ausstrahlten.
Aus Anlass der Verplfichtung des neuen Hennefer Presbyteriums am letzten März-Wochenende 2020 wirft Pfarrer Stefan Heinemann einen Blick zurück in die Kirchengeschichte.

In Jerusalem flogen die Fetzen. Ums liebe Geld kam es zum Streit. Auf der einen Seite die hebräischen Gemeindeglieder – die stammten vom Land, waren zumeist arme Fischer vom See Genezareth mit begrenztem Lebenshorizont. Allen voran die Jünger Jesu, denen man aber große Autorität zugestand. Auf der anderen Seite standen die ‚hellenischen‘ Gemeindeglieder, die als Juden in Ägypten, Kleinasien oder Griechenland aufgewachsen waren. Sie hatten im Ausland gelebt, beherrschten die Weltsprachen Griechisch und Latein.
Anlass für den Konflikt war, so schreibt Lukas in Apostelgeschichte 6, dass die griechischsprachigen Witwen, die auf Almosen angewiesen waren, bei der Verteilung der eingesammelten Spenden regelmäßig übersehen wurden. Das wollten sich die ‚hellenischen‘ Gemeindeglieder auf Dauer nicht bieten lassen.

Beigelegt wird der Streit, als die zwölf Apostel sich auf Seelsorge, Unterricht und Verkündigung zurückziehen – vergleichbar dem heutigen Pfarramt. Zugleich wählen die Gemeindeglieder sieben Männer, die das erste christliche Leitungsgremium bilden. So wird der Konflikt befriedet.
In den Schriften des Neuen Testaments haben die gemeinschaftlichen Leitungsämter unübersehbare Spuren hinterlassen: Die gewählten ‚Presbyteroi‘ (Älteste) haben das Recht, Prediger zu berufen (1. Tim 4,14) und genießen höchste Autorität (1. Petrus 5,1-5).
Später gerät das gewählte Leitungsamt leider zunehmend in Vergessenheit: Im Mittelalter ist aus der Bezeichnung für einen gewählten Laien vielmehr der Begriff für einen geweihten Priester geworden.

Reformation: Die Gemeinde entscheidet
Das Presbyterium als Form der gemeinschaftlichen Gemeindeleitung wird zu Zeiten der Reformation wiederentdeckt: Nach Jahrhun-derten werden in Genf wieder Gemeindeglie-der an der Gemeindeleitung direkt beteiligt. Dort greift der Reformator Jean Calvin 1541 auf die vier Ämter zurück, die im Neuen Testament genannt sind: Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone. In seiner Tradition beschließen die reformierten Gemeinden Frankreichs 1559, dass ihre Gemeinden von einer Versammlung dieser gewählten Amtsträger geleitet werden sollen.
In den Gemeinden, die der Tradition Martin Luthers folgen, ist das zunächst anders: Die Entscheidungskompetenzen werden für Jahrhunderte auf den jeweiligen Landesfürsten übertragen. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommen auch im Luthertum vermehrt ‚Presbyterien‘ und ihnen übergeordnete ‚Synoden‘ auf.

Impulse für die moderne Demokratie
Bis dahin hat das neue Bild vom Menschen und der Gedanke vom ‚Priestertum aller Gläubigen‘ aber bereits starke Impulse für die Entwicklung der modernen Demokratie gegeben. Luthers Gedanke vom freien Menschen mündet in das Konzept der Gewissensfreiheit und der politischen Freiheit. Und die Beteiligung aller Gemeindeglieder setzt ihre Gleichberechtigung voraus – die sich so in der ersten Formulierung der Menschenrechte 1776 wiederfindet.

Der Kaiser geht, die Presbyterien bleiben
In den deutschen Landeskirchen kann man froh sein, 1919 auf die presbyterial-synodalen Strukturen zurückgreifen zu können. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wird der deutsche Kaiser, damals auch höchster Repräsentant der evangelischen Kirchen, entmachtet und geht ins holländische Exil.
In der Weimarer Republik und danach in der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime lernen evangelische Christen ihre gemeinschaftlichen Leitungsstrukturen wertzuschätzen und an ihnen zu arbeiten.

Kein Presbyterium ist perfekt
Bis heute bedeuten diese Entscheidungsstrukturen Freiheit und Chance zugleich: Jeder Christ kann seine Gemeinde und die Kirche in der Region maßgeblich mitgestalten.
Das ist zugleich eine anspruchsvolle Aufgabe, für die die Leitungsgremien der Kirche gut aufgestellt sein müssen. Wie in Jerusalem damals können jederzeit wieder die Fetzen fliegen. Darum lohnt sich die Rückbesinnung auf Martin Luther: Menschen sind immer „zugleich Sünder und Gerechter“. Kein Presbyterium ist perfekt!

Gemeinde wird immer wieder neu
Aber die Institution des Presbyteriums ist Ausdruck eines anderen Gedankens, den Martin Luther ebenfalls prägte. Er sprach von der „ecclesia semper reformanda“ – also der Kirche, die sich immer wieder erneuern muss. Kirche darf nicht aufhören, sich zu reformieren. Und wie kann sie das in der Ortsgemeinde besser tun, als sich die gottgegebenen Gaben und Talente all ihrer Gemeindeglieder zunutze zu machen?
Als in Jerusalem vor 2.000 Jahren der erste christliche Gemeindevorstand gewählt wird, stellen die Apostel eine Vorbedingung: Die Menschen, die die Gemeinde da wählt, sollen „voll heiligen Geistes und Weisheit“ sein. In Gott sollen sich die Gewählten verpflichtet fühlen, die Gemeinde lebendig zu halten, auf dass sie immer wieder neu werde.

Stefan Heinemann